⭕ Am-Ball-Bleiben - Issue #79 - Reading Digest von André Cramer
Reading Digest von André Cramer
Von André Cramer • Ausgabe #78 • Im Browser ansehen
Hallo zusammen! Willkommen zur neuen Ausgabe meines Newsletters! Hier sind die Highlights meiner Lieblingsthemen der letzten beiden Wochen → 📰 📻👂👁️
⊗ über die Komplexität von Neuronen ⊗ über Elon Musk: Visionär oder Irrer - oder beides? ⊗ über Facebook: mit dem Blickwinkel auf ein sterbendes Unternehmen ⊗ warum CAPTCHAs uns so deprimieren ⊗ über LinkedIns Rückzug aus China ⊗ über Wolf Lotters Forderung nach fundamentalem Realismus für erfolgreichen Wandel ⊗ über Meinung und Wissen - und dass wir das deutlich unterscheiden müssen ⊗ über Lieferdienste, die uns in 15 Minuten beliefern - WTF? ⊗ über die Geschichte der Arbeit und der Menschen ⊗ und noch viel mehr!
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Abteilung "Technologie & Innovation"
New Study Finds a Single Neuron Is a Surprisingly Complex Little Computer — singularityhub.com
Warum ich das wichtig finde?
Israelische Wissenschaftler*innen haben herausgefunden, dass es fast 1.000 künstliche Neuronen braucht, um das Verhalten eines einzigen biologischen Neurons aus der Hirnrinde zu reproduzieren. In einer faszinierenden Arbeit hat ein Forscher*innenteam der Universität Jerusalem versucht, dem weiter auf den Grund zu gehen. Sie waren zwar davon ausgegangen, dass ihre Ergebnisse zeigen würden, dass biologische Neuronen komplexer als künstliche sind, aber sie waren überrascht, wie viel komplexer sie tatsächlich sind.
Das Team fand heraus, dass ein fünf- bis achtschichtiges neuronales Netzwerk nötig ist, um das Verhalten eines einzigen biologischen Neurons aus der Hirnrinde zu imitieren. Obwohl die Forscher*innen darauf hinweisen, dass ihre Ergebnisse lediglich eine Obergrenze für die Komplexität darstellen - und keine exakte Messung -, glauben sie, dass ihre Ergebnisse helfen könnten, herauszufinden, was genau biologische Neuronen so komplex macht. Und dieses Wissen kann dann vielleicht Ingenieur*innen helfen, noch leistungsfähigere neuronale Netze und KI zu entwickeln.
Was für ein Wunderwerk das menschliche Gehirn doch darstellt!
Abteilung "Technologie & Gesellschaft"
Erlöser, Verführer, Geschäftemacher: Der riskante Personenkult um Elon Musk — www.spiegel.de
Warum ich das wichtig finde?
Der Spiegel hat eine ganze Titelgeschichte dem Phänomen Elon Musk gewidmet. Wenn ihr meinen Newsletter regelmäßig lest, wisst ihr, dass ich nicht gerade ein Fan von ihm bin. Ja, ich denke, er und seine Unternehmen haben durchaus wichtige Pionierarbeit geleistet in Punkto frischer und vielversprechender neuer Ansatz zum Thema Automobil-Mobilität oder Raumfahrt. Aber der Personenkult der um ihn entstanden ist, in Kombination mit seinem wirren und in meinen Augen gefährlichen Weltbild, stellen ein echtes Problem dar. Ein Typ wie Elon Musk, ein rücksichtsloser und egozentrischer Visionär, der Computern offensichtlich mehr vertraut als Menschen, steht wie kaum ein anderer für das problematische Weltbild des Silicon Valley, alles und jedes Problem "mit Technologie" zu lösen und wirkliche menschliche Bedürfnisse überhaupt gar nicht authentisch in den Mittelpunkt zu stellen. Seine libertäre Sicht auf die Welt stellt gar einen absoluten Gegenpol zu wirklich humanistischen Prinzipien dar. Im Artikel lässt sich viel lernen über dieses Weltbild und die Probleme, die damit einhergehen.
Bei Tesla, wie Musk es schuf, zeigte sich aber bald auch der Ungeist der Silicon-Valley-Philosophie, die Musk und seine Firmen trotz seiner Weltrettungsrhetorik auszeichnen: eine Mischung aus Libertarismus und Anything-goes, die oft wenig Rücksicht nimmt auf menschliche Konsequenzen. Er habe um Tesla einen Kult geschaffen, der religiöse Züge trage, sagt ein ehemaliger führender Kollege. Es sei ihm jedoch nicht gelungen, eine Kultur aufzubauen, in der sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dauerhaft wohlfühlten. Sein Welt- und Menschenbild lässt sich nur schwer mit den Grundsätzen einer liberalen Demokratie vereinbaren. Musk hält seine Ideen für derart groß und wichtig, dass er sie bisweilen über die Bedürfnisse des Individuums stellt. Diese in der Tendenz totalitäre Denkweise zeigt sich, wenn er einen Todesfall im Tesla-Autopiloten indirekt damit rechtfertigt, dass Hunderttausende Menschen durch die Technik gerettet werden könnten. [...]
[...] weil Elon Musk schon mehrfach anscheinend Unmögliches möglich gemacht hat, genießt er inzwischen eine umfassende Narrenfreiheit. Er kann mittlerweile die verrücktesten Dinge vorschlagen und wird damit ernst genommen. [...] Experte für öffentlichen Verkehr hält manche Ideen Musks für perfekte Beispiele von »Elite-Projektion«: »Das sind Konzepte, die einer wohlhabenden und einflussreichen Elite attraktiv erscheinen, weshalb diese Leute glauben, sie seien gut für die ganze Gesellschaft.« [...]
Musk, so schien es, hatte zu viel Vertrauen in robotisierte Abläufe, zu wenig in die Menschen. Das klingt wie ein Echo aus seiner Kindheit, als er sich in Computerwelten flüchtete, um den Menschen zu entkommen. [...]
Zahlreiche ehemalige Tesla-Manager gehören zu einer ständig größer werdenden Gruppe von früheren Weggefährten Musks, die neue Unternehmen gründen und finanzieren. Sie bilden ein engmaschiges Beziehungsgeflecht von Ehemaligen, die Kapital, Kontakte und Know-how zusammenbringen. Es sind Männer – nur Männer –, die die E-Auto-Entwicklung und Batterietechnologien vorantreiben. [...]
Klar ist allerdings: Der Mann ist Ingenieur, nicht Uno-Generalsekretär. Er interessiert sich letztlich weniger für den Planeten und seine Bewohner als für die technische Lösung bestimmter Probleme, die ihm eben reizvoll erscheinen. Aber brauchen wir wirklich den elektrischen Privatwagen für alle? Sollten wir nicht besser mit derselben Begeisterung den öffentlichen Verkehr neu denken? Und was, zum Teufel, sollen wir auf dem Mars? Musks Weltenrettung kommt oft ziemlich machohaft rüber.
Ich finde es wichtig, sich diese Einstellungen und Denkmuster immer vor Augen zu führen, wenn wir mal wieder hören, wie revolutionär Musk angeblich "die Welt retten" will. Auf diese Art der Weltrettung kann ich getrost verzichten.
Facebook Is Weaker Than We Knew — www.nytimes.com
Warum ich das wichtig finde?
Nochmal ein Nachschlag zum Thema Facebook. Immer noch inmitten des Sturms den die Wall Street Journal Facebook Files ausgelöst haben. Hier geht es um eine interessante Ableitung aus dem Enthüllungsmaterial, welche so bisher vielleicht zu kurz gekommen ist. Definitiv hatte ich das Sentiment in dieser Deutlichkeit noch nicht gehört. Aber es ist absolut logisch.
Die durchgesickerten Dokumente deuten nämlich auf ein Unternehmen hin, das seine besten Tage hinter sich hat.
Facebook is in trouble. Not financial trouble, or legal trouble, or even senators-yelling-at-Mark-Zuckerberg trouble. What I’m talking about is a kind of slow, steady decline that anyone who has ever seen a dying company up close can recognize. It’s a cloud of existential dread that hangs over an organization whose best days are behind it, influencing every managerial priority and product decision and leading to increasingly desperate attempts to find a way out. This kind of decline is not necessarily visible from the outside, but insiders see a hundred small, disquieting signs of it every day — user-hostile growth hacks, frenetic pivots, executive paranoia, the gradual attrition of talented colleagues. [...]
Facebook’s research tells a clear story, and it’s not a happy one. Its younger users are flocking to Snapchat and TikTok, and its older users are posting anti-vaccine memes and arguing about politics.
Das sollte man im Auge behalten, wenn es darum geht zu bewerten, was Facebook alles macht - oder nicht macht. Und wieviel Verzweifelung anstelle von Wagemut wohl dahinersteckt. Im Themenkomplex Facebook fand ich in dieser Woche noch zwei weitere Artikel interessant.
Hier geht es um Druck auf einen Entwickler, der es Nutzer*innen leichter machen wollte, ihren Newsfeed neu aufzubauen:
Facebook banned me for life because I created the tool Unfollow Everything. — slate.com
Facebook sperrte ihn auf Lebenszeit und drohte mit einer Klage: Ein Entwickler hat ein Tool entwickelt, mit dem man allen seinen Facebook-Kontakten auf einen Schlag nicht mehr folgen muss. Vielleicht, um sich einen ruhigeren, bewussteren und weniger süchtig machenden Newsfeed aufzubauen?
Währenddessen arbeitet das Unternehmen an etwas so dystopischem wie dem hier: 👇
Facebook is researching AI systems that see, hear, and remember everything you do — www.theverge.com
Das KI-Team von Facebook hat ein neues Forschungsprojekt namens Ego4D ins Leben gerufen, das maschinelles Lernen zur Analyse von 1st-Person-Perspektive-Videos nutzen soll. Es geht darum, dass KI-Systeme alles aufzeichnen, was wir sehen und hören, um uns bei alltäglichen Aufgaben zu helfen.
Stellen wir uns das also einmal vor. Eine von Facebook kontrollierte AR-Brille nimmt alles auf, was wir sehen, speichert, analysiert es und schafft so quasi ein erweitertes Gedächtnis. Lasst mich raten. Das Team ist so begeistert von seiner aktuellen und zukünftigen biometrischen Überwachungstechnologie, dass es sich wahrscheinlich keine Gedanken über Zustimmung oder Datenschutz macht. Aber hey, vielleicht wird das ja irgendwann noch nachträglich eingeführt. Wenn krasse Datenskandale passiert sind.
Ehrlich, die Vorstellung, dass Facebook die Kontrolle über all das hat, was ich jeden Tag sehe und höre, jagt mir Angst ein. 😱
Mehr Lesestoff und Inspiration
Nach Datenleck: Hausdurchsuchung statt Dankeschön — www.golem.de
Rund 700.000 Personen waren von einem Datenleck betroffen. Ein Programmierer hatte die Lücke entdeckt und gemeldet - und erhielt eine Anzeige vom technischen Betreiber des Dienstes.
Das ist ein trauriges Beispiel dafür wieviele Unternehmen und Handelnde in unseren Land so "UNdigital", "UN-auf-Zack" und wohl auch in solchen Fällen UNredlich sind. Zu blöd dafür, Prinzipien wie Responsible Disclosures als das zu verstehen, was sie sind: eine unabdingbare Hilfe auf dem Weg zu besseren und sicheren digitalen Welt.
How Axie Infinity is turning gaming on its head — www.platformer.news
Im aktuellen Platformer Newsletter von Casey Newton gibt es einen Blick in eine sehr interessante Gaming Entwicklung. Hier geht es um ein neues Spiel, in dem Spieler*innen jeden Monat Tausende von Dollar mit dem Kampf gegen Pokémon-Klone verdienen können. Wird Krypto so zum Mainstream?
The name of this thing is Axie Infinity, and it’s made by a Vietnam-based company named Sky Mavis. The company, which was founded in 2018, is now valued at $3 billion. [...] Axie is interesting because it’s using cryptocurrency to stand up a new kind of video game, one in which you can earn meaningful income just by playing. [...] In short, it’s a social network where all the participants are buying and selling goods with real money. We have a word for that, one that we would almost never apply to a web-based social network: an economy.
Microsoft to pull LinkedIn from Chinese market — techcrunch.com
Microsoft zieht LinkedIn aus China ab: Das Unternehmen hatte zuvor bereits immer wieder beanstandete Profile aufgrund von Druck lokaler chinesischer Behörden nicht mehr verfügbar gemacht. Für Microsoft war das Engagement in China von Anfang an ein schwieriges Unterfangen. Sich der chinesischen KP beugen zieht Argwohn und Zorn internationaler Nutzer*innen und Aktivist*innen auf sich. Die jetzige Entscheidung könnte sich als ein Schlüsselmoment in der längeren Geschichte der digitalen Abkopplung Chinas vom Rest der Welt erweisen.
Why CAPTCHA Pictures Are So Unbearably Depressing — onezero.medium.com
Schonmal darüber nachgedacht, warum die Bilder, welche uns in den CAPTCHA Aufgaben über den Weg laufen, uns so runterziehen?
CAPTCHA images are never joyful vistas of human activity, full of Whitmanesque vigor. No, they’re blurry, anonymous landscapes that possess a positively Soviet anomie. [...] Why are these photos so depressing?
They’re devoid of humans, The angles are all wrong, They’re voyeuristic, They look like crime-scene footage, The grids on the photos are an alien’s-eye view of the world, There’s very little nature
China Is Still the World's Factory—And It's Designing the Future With AI — time.com
Wie sieht die Zukunft der chinesischen Industrieproduktion aus? Der KI-Experte Kai-Fu Lee sagt voraus, dass wir im Zusammenspiel mit KI von Chinas Industrie einiges zu erwarten haben.
[...] if you are still thinking of China’s factories as sweatshops, it’s probably time to change your perception. The Chinese economic recovery from its short-lived pandemic blip has been boosted by its world-beating adoption of artificial intelligence (AI). After overtaking the U.S. in 2014, China now has a significant lead over the rest of the world in AI patent applications. In academia, China recently surpassed the U.S. in the number of both AI research publications and journal citations. Commercial applications are flourishing: a new wave of automation and AI infusion is crashing across a swath of sectors, combining software, hardware and robotics.
Abteilung "Gesellschaft, quo vadis?"
Lotters Transformator: Idiotensicher — taz.de
Warum ich das wichtig finde?
Ein toller Artikel von Wolf Lotter. Er sagt, um in der großen Transformation nicht "irre" zu werden, brauche man vor allen Dingen den Mut zum fundamentalen Realismus. Und Selbstvertrauen. Wie in allen seinen Texten, gibt es hier viele kluge Beobachtungen und Denkanstöße. Und das alles wie immer absolut pointiert und ohne Schnörkel. Ein Genuss!
Wissensgesellschaft heißt nicht "alles wissen", sondern "neurigig sein":
Einfachheit ist nicht mehr Einheit und Einfalt, sondern Vielfalt. Dieses System heißt an dieser Stelle ganz grundsätzlich Wissensgesellschaft. Die heißt nicht so, weil alle alles besser wissen, sondern weil diese Gesellschaft neugierig ist und nicht auf alles eine Antwort hat. Sie will wissen, nicht recht haben. Das wird schwierig, keine Frage, denn das hat in Deutschland nicht nur keine Tradition, sondern ist auch gegenwärtig ganz aus der Mode gekommen. Neugierde, die das, was ist, infrage stellt, ist hier ein wenig irre, verrückt, daneben. Die sie haben, sind gestört. Die Gestörten sind lästig. Opportunisten haben es gern übersichtlich, bleiben in Nischen und Bubbles, bei ihren Lagern und Ideologien. [...]
Was bedeutet Vollbeschäftigung heute?
Die meisten Deutschen glauben an die Industriegesellschaft und die Vollbeschäftigung und ein soziales und kulturelles System, dass im 19. Jahrhundert für Fabriken erdacht wurde. [...] Man sagt Vollbeschäftigung und meint Arbeitszwang. Oder man behauptet, dass das, was ist, nicht anders sein kann, weil man es immer schon so gemacht hat. Dann merkt man, dass was aus der Bahn läuft. Man verwaltet das Problem aber lieber, statt es zu lösen – Transformationspolitik, die ins Leere plaudert. [...]
Mit den Mitteln und dem Denken der Vergangenheit die Zukunft gestalten wollen:
Nachdem die scheinbar neuen politischen Bewegungen sich aber ahnungslos an den alten kollektivistischen Lagerdenken bedienen, die das 19 Jahrhundert geprägt (und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ermöglicht haben), laufen sie in die Irre. Sie sind verrückt. [...] Die Arbeit ist Kopfarbeit geworden. Wir aber handeln wie der Eiermann: Wir tun so, als ob alles, was geschieht, sich nur an der Fabrikgesellschaft und ihren veralteten Organisationsformen ausrichten sollte. Das gilt für die Arbeit, die Ausbildung, das Leben. Und für die Politik. Statische Parteien, die in eine Welt, die mit Komplexität und Vielheit umgehen sollte, nicht passen. All das gibt es, weil es den Insassen, den Verrückten, jene Scheinsicherheit gibt, für die vor allen Dingen künftige Generationen die Rechnung zahlen. [...]
Industrieller Rückbau passiert von ganz allein - aber das neue, das muss aktiv gestaltet werden:
Das Legehuhn des 21. Jahrhunderts ist die Wissensökonomie, sie verlangt die Zuwendung zu Vielfalt, positiver Differenz und nach einer Arbeitskultur, in der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung das Sagen haben, nicht mehr das Mitlaufen im Hamsterrad. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Wissensgesellschaft bedeutet: Wir hören auf, Probleme zu verwalten und ihre Existenz zu bedauern. Wir fangen an, sie zu lösen. Jede und jeder, so gut er kann. [...]
Solche Analyse würde recht schnell dazu führen, die Konturen der neuen Zeit besser zu verstehen, etwa den Umstand, dass Kopfarbeit und damit originelles Denken heute wichtiger ist als das Abspielen von Routinen. Dann müsste man auch sehen, dass es gar keiner Appelle zum industriellen Rückbau bedarf, weil sich der von selbst tut. Es geht um Umbau. Das ist Transformation. Rückbau ist kläglich, ängstlich, klein, rüberrettend – ein bisschen Grün in den Beton statt den Beton ganz wegzulassen und Besseres zu denken. Dazu muss man aber selbst denken und nicht ständig mitbrabbeln. Erwachsen sein. Erwachsen handeln [...]
Völlig überschätzt: die starke Meinung — krautreporter.de
Warum ich das wichtig finde?
Dieser kluge Text über das Thema "Meinung" von Theresa Bäuerlein hat mir außerordentlich gut gefallen. Meinungen sind billig, deswegen hat jeder so viele davon. Aber Wissen ist teuer, nämlich hart erarbeitet. Wie funktioniert das Zusammenspiel von Meinung und Wissen in unserer Gesellschaft? Und was sollten wir tun, damit wir mehr Wissen haben, damit die Meinung nicht so unfundiert im Raum steht?
Der Philosophieprofessor Patrick Stokes sagt seinen Studierenden jedes Jahr zwei Sätze: „Sie haben kein Recht auf Ihre Meinung. Sie haben nur ein Recht auf das, wofür Sie argumentieren können.“ Nicht, weil er Diktator seines Hörsaals sein will, sondern um seinen Studierenden zu vermitteln, dass eine Meinung kein Ersatz für Wissen ist. Er begründet das mit Platon. „Platon unterschied zwischen Meinung oder allgemeiner Überzeugung (doxa) und gesichertem Wissen. [...] Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Denn Menschen ignorieren oft Fakten, die ihren Überzeugungen widersprechen. Sie wehren sich gegen starke Argumente, die ihr Selbstbild erschüttern. Und sie schätzen ihr Wissen höher ein, als es tatsächlich ist. [...]
Meinungen sind billig, deswegen hat jeder so viele davon. Wissen ist teuer, nämlich hart erarbeitet. Wer sagt: „Ich habe ein Recht auf meine Meinung“, will eigentlich sagen: „Ich darf alles behaupten, was ich will.“ [...]
Wenn das „Meinungsklima“ kaputt ist, liegt das vielleicht auch daran, dass zu viele glauben, ein persönliches Gefühl sei genauso viel wert wie eine fundierte Meinung. Dass es ein wichtiger Beitrag ist, den sie verteidigen müssen. Sie nennen das Gefühl dann eine „starke Meinung“. [...]
Eigentlich verweist die Idee von Meinungsstärke auf eine Schwäche unserer Kultur. Nämlich, dass wir lauten Menschen Macht zusprechen und sie für fähig halten. Der Philosoph Bertrand Russell hat einmal geschrieben: „Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, dass die Dummen todsicher und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
Halleluja, so ist es leider! 😫
What’s the Point of 15-Minute Grocery Delivery? — www.vice.com
Warum ich das wichtig finde?
Ich bin schon seit der Sekunde, als ich bemerkte, dass es nun die Gorillas, Flinks und Getirs dieser Welt gibt, ein starker Kritiker dieses Modells. Mein erster Gedanke, als ich diese Unternehmen vor ein paar Monaten zum ersten Mal wahrnahm: "Ihr wollt Bestellungen innerhalb von nur 10 Minuten ausliefern? Frage 1: Wer zum Fuck braucht das? Frage 2: Wie soll das funktionieren, ohne dass dabei Menschen - nämlich Eure Lieferfahrer*innen - schäbigst ausgebeutet werden?".
Hier wird aus einer amerikanischen Perspektive dieses Business, das Geschäftsmodell und vor allem auch das Problem (gibt es eines?) was angeblich gelöst werden soll, genauer angeschaut.
Experts wonder if any innovation could allow a company to turn a healthy profit by delivering food in minutes for no additional cost without making life miserable for workers. But the question of what success would mean is almost as profound. What will a city filled with rapid-delivery grocery startups look like? And, for all the costs, what will we really have gained? These companies operate only in dense urban neighborhoods where a grocery store is rarely more than a 10-minute walk away. The advertisements [...] boast of a convenience that borders on the ridiculous. They speak to the dreams of a certain kind of urban dweller who wishes to live amid a cornucopia of instant gratification, where anything from a bunch of bananas to a can of soda to a carton of oat milk can be quickly delivered by an anonymous low-wage worker with the push of a button, and every spontaneous public interaction is an inefficiency to be solved. [!]
But where investors see opportunity, skeptics see societal deterioration. "I think this idea of everything being delivered makes the city much more transitory, because we're not experiencing the city, we're not getting out," [...]
Like many of those businesses, these 15-minute delivery companies argue they can help solve real issues. For dockless bikeshare, it was carbon-free transportation. For Uber and Lyft, it was eliminating the necessity of car ownership, ending traffic, and reducing emissions. Delivery companies promised to save restaurants, not jeopardize their existence. [...]
[...] the company's rhetoric is awfully close to the narrative that says various societal problems can be solved with an algorithm and "all the other fancy words that people talk about." Such promises rarely deliver, [...]
While he appreciates that these companies are thinking about food waste and that the solutions have to start somewhere, he suggested their rhetoric did not show sufficient appreciation for the fact that people are going hungry just a few miles from where these services operate, low-income areas where fresh food is hard to come by and quick, fresh-food delivery could be genuinely helpful. The point is to get discarded food to the people who need it. None of these new companies do that.
Ein Claim eines amerikanischen Unternehmens ist:
You’ve suddenly run out of milk and your morning is about to be ruined? Don’t sweat it, Buyk it!"
Ich wünschte, wir lebten in einer Welt, in der sich die Gig-Worker*innen, die von diesen Unternehmen ausgebeutet werden, über solche "Probleme" einen Kopf machen könnten. Ich glaube, deren Morgen wird nicht dadurch ruiniert, wenn sie feststellen, dass sie jetzt gerade doch keine Milch mehr haben. Niemands Morgen sollte übrigens dadurch "ruiniert" sein, dass man gerade keine Milch mehr hat. Was für ein Bullshit, was für eine Arroganz und Blindheit vor der eigenen Privilegiertheit! 😡
Do We Need to Work? — www.thenation.com
Warum ich das wichtig finde?
Das ist eine interessante Buchgesprechung des Buchs "In Work: A Deep history of how we spend our time" (auf Deutsch: "Sie nannten es Arbeit - eine andere Geschichte der Menschheit") des Anthropologen James Suzman. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob wir lernen könnten, so zu leben wie unsere Vorfahren, das heißt, freie Zeit über Geld zu stellen oder stellen zu können. Ich habe das Buch mit großen Genuss in diesem Jahr gelesen und finde die Besprechung hier sehr hilfreich. Suzman spannt wirklich den ganz großen Bogen auf über die Menschheitsgeschichte und wie wir unser Leben und unseren Lebensunterhalt im Wandel der Zeiten bestritten haben. Mit der großen Zäsur der Sesshaftwerdung des Menschen vor ca. 12.000 Jahren und den damit einhergehenden Umwälzungen für unser Leben und seinen Unterhalt. Guess what? Menschen kennen Erwerbsarbeit, insbesondere in ihrer heutigen Form erst sehr kurz. Und unsere Vorfahren vor der Sesshaftwerdung haben nur 10-15 Stunden in der Woche damit verbracht, Nahrung zu beschaffen und "Arbeit" für den Lebensunterhalt auszuführen.
Why the wealthy few are able to satisfy so many of their whims before the world’s poor achieve basic levels of economic security has always been an uncomfortable question for the economic profession. But economists assure us that, in any case, the only long-term solution to global poverty is more economic growth. […]
Keynes’s vision of a post-scarcity future was as much a recovery of our species’s pre-scarcity past. Humanity’s “fundamental economic problem” is not scarcity at all, but rather satiety. […]
Suzman gestures toward “proposals like granting a universal basic income,” “shifting the focus on taxation from income to wealth,” and “extending the fundamental rights we give to people and companies to ecosystems, rivers, and crucial habitats.” But he provides no argument for where constituencies supporting these policies might be found or how coalitions working toward them might be constructed. […]
We should set the course not to Mars, for vacationing with Elon Musk and Jeff Bezos, but rather to a post-scarcity planet Earth on which their wealth has been confiscated and put to better ends. Getting there will require that we overcome the endemic insecurity that continues to plague nine-tenths of humanity, while also reducing and transforming the work we do.
Wichtige Worte. Die wachsende Ungleichheit droht uns alle ins Unglück zu stürzen.
Dies und Das
In dieser Woche gab es viel Aufregung um jahrealte Tweets mit fragwürdigen Gedanken und Begriffen des 13-/14-jährigen Ichs der neuen Sprecherin der grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich. Dann wurde die Aufregung an anderer Seite noch größer, als die mittlerweile 78-jährige Elke Heidenreich bei Markus Lanz zeigte, dass weiße alte Frauen, weißen alten Männern eigentlich in nichts nachstehen. Ein beschämender Aufritt, der zeigt, dass auch Menschen, die vor 40 Jahren vielleicht am Puls der Zeit und rebellisch waren, nicht automatisch beim Altern auf der Höhe bleiben. Und so mag ihre Selbstwahrnehmung sie selbst möglicherweise als unverblümt, voll gesundem Menschenverstand, gegen (vermeintliche) Eliten usw. einschätzen. Ich habe jedoch nur bitteres Ressentiment gesehen. Traurig. Ich bin aber insgesamt der Meinung, dass wir als Gesellschaft halt dann doch auch schon ein Stückchen weiter sind als vor 40 Jahren. Auch wenn alle in dieser Runde dasitzen und bedächtig zuhören bei Lanz. Das liegt aber am Design der Sendung und an der Mission von Lanz.
Wenn ich Menschen wie Elke Heidenreich so reden höre, habe ich aber auch Angst, dass ich im Alter auch falsch abbiege oder nichts mehr dazu lerne und dann so was erzähle. Ich versuche, dass das nicht eintritt.
Zum Stand der bürgerlichen Gesellschaft hat Spiegel Autor Christian Stöcker auch noch was hinzuzufügen:
Zeitmanagement und die 5-Minuten Terrine:
Maskenpflicht in Schulen aufheben, bevor unter 12-jährige geimpft werden können? 🤔
Auf so vielen Ebenen fragwürdig: Wer genau ist mit Tofu gemeint? Und wie respektvoll oder eher despektierlich ist die Wahl von Tofu als Beispiel? Was für ein Menschenbild scheint hier durch? Kommen Sachen nur in den Supermarkt rein oder werden die da auch wieder rausgeholt? Und welches Verkehrsmittel kommt wo und in welche Richtung dabei zum Einsatz? Dürfte man mit dem Lastenfahrrad nach Hause fahren, wenn man sein Tofu gekauft hat, oder würde das der CDU Mainz sauer aufstoßen? Fragen über Fragen...
Email Inboxen aus der Hölle:
Dieser fliegende Roboter kann auf einem Skateboard fahren und auf einem Seil balancieren. Das Aussehen? Super-Spooky. Und gerade diese Balance- und Flug-Einlagen mit Hilfe von Drohnen-Propeller-Technologie sehen sehr beunruhigend aus. Erinnert mich an diese Dronenroboter in den alten Star Wars Filmen... 😱
Und wenn wir schon bei solch gruseligen Robotern sind, wie wäre es hiermit? Was hat vier Beine in Hundeform, ist schwer bewaffnet, sagt aber nicht "Wau Wau"? Ghost Robotics und SWORD International haben sich zusammengetan, um einen "Roboterhund" mit Gewehr zu entwickeln. Das Special Purpose Unmanned Rifle (SPUR) genannte System verbindet ein 6,5 mm Creedmoor-Gewehr von SWORD mit einem der vierbeinigen unbemannten Bodenfahrzeuge (Q-UGVs) von Ghost Robotics. Mir wird ganz anders bei diesem Anblick... 🤢 Mehr dazu hier.
Schockierende Karte der USA mit Fokus Verteilung von Übergewichtigkeit. Interessant ist, dass hier die gleichen Muster in der Karte zu sehen sind, wie bei Karten über politische Präferenz (konservativ/progressiv) oder Impfstatus. Kann man von konservativen, dicken Ungeimpften sprechen (freie Anlehnung an das Muster aus dem Die Toten Hosen Song "Lesbische, schwarze Behinderte")?
Gedanken zur Energiewende:
Der ganze Rest
Alles, was ich noch interessiert gelesen habe, aber hier nicht im Detail besprechen kann:
Rüstungswettlauf am Indopazifik: Wo die USA und China direkt aufeinandertreffen (Der Spiegel)
Klimabilanz der Raumfahrt: Der schmutzige Weg zum Mars (Die Zeit)
Sarah-Lee Heinrich: "Vielleicht müssten wir lernen, mehr Nachsicht zu üben" (Die Zeit)
„Hauptsache divers, Hauptsache Migrationshintergrund, Hauptsache Quote“ (Tagesspiegel)
Bildung ist schon lange keine Ländersache mehr (Krautreporter)
The strategic reverberations of the AUKUS deal will be big and lasting (The Economist)
The super-rich, ‘sissy boys’, celebs – all targets in Xi’s bid to end cultural difference (The Guardian)
FILE NOT FOUND: A generation that grew up with Google is forcing professors to rethink their lesson plans (The Verge)
The Kremlin’s Strange Victory (Foreign Affairs)
Simone Biles Chose Herself (The Cut)
The Age of America First (Foreign Affairs)
Die Idee einer Welt ohne Wachstum, verständlich erklärt (Krautreporter)
Portugal’s radical drugs policy is working. Why hasn’t the world copied it? (The Guardian)
The Death and Birth of Technological Revolutions (Stratechery)
It’s Time to Stop Talking About “Generations” (New Yorker)
The death of the newsfeed (Benedict Evans)
The Songs That Bind (New York Times)
Epistemic trespassing, or epistemic squatting? (Noahpinion)
Semiconductors pose an unwelcome roadblock for carmakers (The Economist)
New research points to role of social media in stoking division in U.S. (Tech Policy Press)
Matter raises $7 million Series A to build a better reading app (Techcrunch)