⭕ Am-Ball-Bleiben - Issue #91 - Reading Digest von André Cramer
Hallo zusammen! Willkommen zur neuen Ausgabe meines Newsletters! Hier sind die Highlights meiner Lieblingsthemen der letzten Woche. Vielleicht ist was für Euch dabei → 📰 📻👂👁️
⊗ über die Trends der Trends - Meta-Trends: was wird wirklich wichtig? ⊗ über eine Chance für offenere Debatten über das Web3 ⊗ über die groteske Übernahmeschlacht um Twitter ⊗ über den Rechtsruck in Europa, die Frankreich-Wahl und über die falschen Debatten ⊗ über den neuen globalen Kulturkrieg ⊗ über die SPD und Russland ⊗ über freiwilliges Maskentragen ⊗ über eine Inventur des fossilen Zeitalters ⊗ über die Nazi-Vergangenheit deutscher Industriellenfamilien ⊗ wie die Oligarchen London gekauft haben ⊗ und noch viel, viel, viel mehr!
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Abteilung "Technologie & Innovation"
The Meta Trending Trends 2022 — medium.com
Warum ich das wichtig finde?
Jetzt sind wir schon im April 2022... und die Welle der Trendberichte und -vorhersagen ist langsam abgeebbt. Zeit, sich nochmal übergreifend mit Trends zu beschäftigen, die da zu sehen waren. Was sagen denn die ganzen Trends? Da ist dieses Ding hier ganz nützlich: Der fünfte jährliche Meta Trend Report fasst mehr als 500 Trends aus mehr als 40 Trendberichten zusammen und fügt aus diesen eine Rangliste der 14 am häufigsten berichteten kulturellen Trends für 2022 zusammen.
Hier eine kleine Auswahl:
01. Eco- Everything ♻️
Sustainability is embedded everywhere — we want action but delivery now. Keywords: green-washing, compromises, buy for life, circular, zero-impact. Out: Branded upcycled sneakers. In: Branded caps on yearly purchases. Drivers: capitalism, short-termism, bad incentives, impatience, guilt. Lean In By: Going beyond green-washed drops and play long games
02. Digital Default 🌐
Life moves online and the IRL vs. URL distinction blurs, becoming moot. Keywords: phygital, metaverse, VR, gaming, meat-space, avatar, pluriverse. Out: “Fortnite Concerts” highlighting this blur. In: “Digital Carbon Footprints” highlighting this blur. Drivers: physical / mobility limits, health woes, escapism, self-fulfilling sci-fi. Lean In By: Focusing on the here and what make this reality so special
04. Radical Inclusivity 🌎
Needed diversity and equity beget belonging and integration. Keywords: gender, neuro-, accessible, income, fluid, generation, neighbor. Out: Seats at the table. In: Owning the table. Drivers: inequality, injustices, majority minorities, guilt, polarization. Lean In By: Constantly refreshing ideologies — move over and hand over
07. Algo_Minded 🧠
0’s and 1’s ironically infiltrate the intimacy of our mental wellness. Keywords: app, group, online studio, live class, game, streak, data tracking. Out: Headspace’s home feeds with push-notifications. In: Chronic illness subreddits with P2P support. Drivers: addiction, access, convenience + compromise, pursuit of balance. Lean In By: Leveraging networks with low barriers to support, not extract
11. Me Inc. 💼
The long tail of the market (creators) are making what it doesn’t already offer. Keywords: side-hustle, fandom, artisanal, multi-hyphenate, career polygamy. Out: Personal brands. In: Personal businesses. Drivers: student debt, system skepticism, no / low barriers, financial FOMO. Lean In By: Helping creators compete against The Man, not one another
14. Feed University 🎓
Screens and social feeds upend desks as education is now omnipresent. Keywords: remote, sprint, masterclass, [profession]-TikTok, Insta slideshow. Out: Bored from learning: slow and expensive curriculum. In: Floored from learning: hyper-relevant and digestible content. Drivers: low / no barriers, long tail, debt, systems failing, multiple truths. Lean In By: Teaching your subject, measuring brand health by curiosity
Noch mehr Lesestoff und Inspiration
A new heat engine with no moving parts is as efficient as a steam turbine — news.mit.edu
Ingenieur*innen des MIT und des NREL haben eine Wärmekraftmaschine ohne bewegliche Teile entwickelt, die genauso effizient wie eine Dampfturbine ist. Das Design könnte eines Tages ein vollständig dekarbonisiertes Stromnetz ermöglichen, so die Forscher*innen.
Abteilung "Technologie & Gesellschaft"
Web3-Optimismus — coolgenug.de
Warum ich das wichtig finde?
Dies ist ein wertvoller und sehr reflektierter Beitrag zum Thema Web3, NFTs und Blockchains von Gregor Schmalzried, ein von mir sehr geschätzter Autor mit Schwerpunkt Internet-Kultur. Man kann vielleicht schnell den Eindruck von mir bekommen, dass ich das Web3 verteufele. Nein, das tue ich nicht. Ich bin aber sehr kritisch, weil - und das unterscheidet das Web3 nicht von der restlichen Welt - hier in einer kritischen Phase gerade viel zu viele windige Geschäftemacher*innen und Abzocker*innen die Debatte zu beherrschen versuchen. Aber: es gibt Licht und Schatten zwischen NFTs und Blockchains. Deshalb empfehle ich diesen Beitrag hier unbedingt.
[...] ein so komplexes und riesiges Technologiefeld pauschal als Scam abzukanzeln finde ich nicht nur denkfaul, sondern auch einfach unproduktiv. Ich persönlich beschäftige mich seit etwa einem Jahr aktiv mit Kryptokram und das hat gerade mal dazu gereicht, um mir eine Meinung in die Richtung von “viele gute Sachen dabei, aber auch eine Menge Blödsinn” zu erarbeiten. Und dafür habe ich wirklich hart gearbeitet! [...]
Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass die Schutzschichten zwischen Frontend und Backend im Web3 genauso gebaut werden wie im klassischen Web auch. Anwendungen in einer erfolgreichen Web3-Zukunft könnten genauso leicht und simpel zu bedienen sein wie die Anwendungen, die wir heute gewöhnt sind — es fehlen nur die Oberflächen, die von kommerziell agierenden Unternehmen dafür gebaut werden. “Aha!”, kommt nun der Einruf, “Oberflächen von kommerziell agierenden Unternehmen! Also wird doch wieder alles zentralisiert!” Jein. Es steht außer Frage, dass es auch im Web3 zentralisierte Player geben wird. Der Unterschied ist: Diese wären dann gezwungen, miteinander kompatibel zu sein und könnten sich nicht einfach auf Netzwerkeffekten ausruhen. Stattdessen gäbe es viel mehr Konkurrenzkampf und Innovationsdruck. Der digitale Markt wäre ein bisschen mehr wie der analoge Markt. Es gibt heute schon ein Beispiel, wie das aussehen kann: Kryptobörsen. Davon gibt es mittlerweile Hunderte, viele bringen ihre eigenen Stärken und Schwächen mit, und keine davon hat echte Chancen, zum Monopolisten zu werden. Denn ob ich mit Kraken oder Coinbase meine Bitcoin kaufe, ist letztlich wurscht.
Einen weiterer wertvoller Web3-Beitrag kommt in dieser Woche vom Netzpolitik.org Podcast. tante ist hier zu Gast - weshalb dieses Gespräch sich eher mit den Schattenseiten beschäftigt. Zum Beispiel geht es darum, wie sehr sich sehr bekannte Promis als Werbezugpferde für Krypton-Produkte einspannen lassen - und ob das ein redlicher Vorgang ist. Dennoch und gerade deswegen: ebenso wertvoll!
Netzpolitik Podcast: Web3 - Zurück in die Zukunft — open.spotify.com
Gemeinfrei-ähnlich freigegebene Inhalte durch Creators selbst statt einer Handvoll großen Firmen, soll es wieder uns allen gehören: das Internet der Zukunft. Das versprechen zumindest die Vertreter:innen des sogenannten Web3. Aber ist diese Blockchain-basierte Technologie wirklich die Lösung für unsere Probleme? Eine kritische Betrachtung.
Hier geht es um das Thema Metaverse, welche ja eng verwoben ist mit dem Geist des Web3. Ich glaube, hier kommt gut rüber, was der große Kritikpunkt gerade ist:

Twitter: Is Elon's Offer Serious? — open.spotify.com
Warum ich das wichtig finde?
Auch in dieser Woche bestimmt Elon Musk weiter die Schlagzeilen. Neben sagenhaften Quartalsergebnissen bei Tesla geht auch die Schlacht um Twitter weiter. Musk möchte das ganze Unternehmen kaufen (nachdem er vor kurzem schon größter Einzelaktionär geworden war). In dieser Ausgabe des Pivot Podcasts sprechen Kara Swisher und Scott Galloway über das Angebot von Musk, Twitter für 43 Milliarden Dollar komplett zu kaufen. Wie immer in dieser Reihe, ist das sehr unterhaltsam. Die direkte und saloppe Art von Scott Galloway ist fesselnd - und er ist sich sicher: das Übernahmeangebot ist nicht ernst gemeint und lässt sich anhand verschiedener Aspekte als nicht realistisch und nicht umsetzbar klassifizieren. Größtes Bedenken: die Gegenfinanzierung durch Beleihung von Tesla-Aktien stelle ein unkalkulierbares und inakzeptables Risiko für Tesla und seine Aktionär*innen dar. Wir werden sehen, wie das weitergeht. Ende der Woche hieß es, dass Musks Finanzierung stehen würde.
Hier gibt es eine Einordnung von Ben Thompson zu dieser grotesken Übernahmeschlacht um Twitter. Thompson meint Twitter sollte privatisiert werden und zu seinem Ansatz von vor 2012 zurückkehren, ein zentraler Dienst mit Drittanbieter-Clients zu sein. Er plädiert für eine Abspaltung in eine Service Company (das Netzwerk und der Social Graph) und eine App Company (Zugang und UX), inklusive einer Öffnung des Ökosystems für beliebige Drittanbieter Apps. Das ist ein durchaus interessanter Gedanke.
Back to the Future of Twitter — stratechery.com
What potential does Musk see, and could he unlock it? For my part, not only do I agree the potential is vast, but I do think Musk could unlock it — and that itself has implications for the preceding paragraphs.
Thompson hat hier auch einen schön herausgearbeiteten Vergleich zwischen Twitter und Instagram. Denn dieses "Beast" Twitter ist nur schwer zu fassen - stellt aber eine echte Besonderheit dar im Vergleich zu anderen sozialen Netzwerken:
Think about the contrast between Twitter and Instagram; both are unique amongst social networks in that they follow a broadcast model: tweets on Twitter and photos on Instagram are public by default, and anyone can follow anyone. The default medium, though, is fundamentally different: Twitter has photos and videos, but the heart of the service is text (and links). Instagram, on the other hand, is nothing but photos and video (and link in bio). The implications of this are vast. Sure, you may follow your friends on both, but on Twitter you will also follow news breakers, analysts, insightful anons, joke tellers, and shit posters. The goal is to mainline information, and Twitter’s speed and information density are unparalleled by anything in the world. On Instagram, though, you might follow brands and influencers, and your chief interaction with your friends is stories about their Turkey Day exploits. It’s about aspiration, not information, and the former makes a lot more sense for effective advertising.
It’s more than just the medium though; it’s about the user’s mental state as well. Instagram is leisurely and an escape, something you do when you’re procrastinating; Twitter is intense and combative, and far more likely to be tied to something happening in the physical world, whether that be watching sports or politics or doing work [...]
Dass Elon Musk allerdings "der Richtige" ist, um wertvolle Veränderungen bei Twitter anzustoßen, teile ich in keinster Weise. Er verkörpert - ganz unabhängig von definitiv zu würdigen Innovations- und Umsetzungserfolgen in seinen Unternehmen - einen Typus Unternehmer*in, welche eine große Gefahr für eine lohnenswerte und faire Zukunft für die Menschheit darstellt. Insbesondere eine so starke Meinungsmacher- und Informations-Plattform in seine Hände zu geben wäre fatal aus meiner Sicht. Er hat mit seiner libertären Ideologie überhaupt kein Interesse, verantwortungsvoll mit dem Thema Content Moderation umzugehen - ohne welches es einfach nicht geht, wenn Menschen im digitalen Raum zusammenkommen. Wenn Elon Musk der Welt oder Amerika in Sachen Medien helfen möchte, sollte er Fox News kaufen und den ganzen Bums dichtmachen.
Ein ganz anderer Gedanke übrigens: Ich habe die ganze Zeit ein Störgefühl wenn es darum geht, dass unbedingt "mehr aus Twitter herausgeholt" werden muss. Ich habe die aktuelle Ausgabe von Benedict Evans Podcast gehört und habe (neben vielen wertvollen Analysen) mich immer wieder an den Bemerkungen gestört, wie klein, noch zu unbedeutend und unter seinem Potential Twitter doch sei.
Another Podcast: The future of Twitter — open.spotify.com
Elon is on manoeuvres, but what are the problems? Has he thought about this at all? Why has Twitter always been such a mess, and why is it such a tiny company?
Ich weiß nicht, wie es Euch geht. Ich mag Twitter. Es ist für mich das mit Abstand wertvollste Social Network. Ja, der Dienst kann sehr anstrengend sein und hat ebenso toxische Facetten wie Facebook, Instagram & Co. Aber dort sind wahnsinnig kluge Leute, witzige Menschen, ist so viel wunderbare Inspiration. Reicht es nicht aus, wenn das Unternehmen nah am Break-Even operiert? Oder Gewinn macht, aber nicht exorbitant? Wächst, aber nicht über alle Maßen?
Der Umsatz ist im Vergleich zum Vorjahr sogar in der Tat um 38 % gestiegen, und eine Reihe neuer Funktionen, von Communities über Spaces bis hin zu Twitter Blue, zeigen, dass die Produktpalette von Twitter "frisch" ist. Twitter befasst sich auch mit vielen heiklen Fragen des maschinellen Lernens in großem Maßstab mit kulturell und politisch sensiblen Informationen. Wo ist also das Problem, welches nun dringend angepackt werden muss, so dass es nun in die Hände eines so unverantwortungsvollen Rabauken wie Musk gelegt werden sollte?
Wir reden doch so viel davon, dass wir einen anderen Begriff von Wirtschaften, von Wachstum, vom Messen von Erfolg und Glück brauchen. Das hier ist doch ein klassischer Fall davon. Warum immer höher, schneller, weiter, wenn der Dienst doch für über 200 Mio. Menschen gut funktioniert?
Noch mehr Lesestoff und Inspiration
Meta announces plans to monetize the Metaverse, and creators are not happy — arstechnica.com
Nach endlosen Beschwerden darüber, dass Apple 30 % der Einnahmen aus dem AppStore einbehält, gibt es eine interessante Entwicklung bei Meta: 50 % der Einnahmen von den Urheber*innen innerhalb des gerade entstehenden Metaverse sollen von Meta einbehalten werden. Wenn Nutzer*innen einen Gegenstand in Horizon Worlds kaufen, würde Meta einen Anteil von 25 Prozent erhalten. Aber das ist schon nach dem Betrag, den eine Hardware-Plattform vorher rausschneidet. Im Moment ist das nur Metas eigener Oculus Store, der einen Anteil von 30 Prozent rausnimmt.
Sie sollten das Jammern über Apple aufhören.
Abteilung "Gesellschaft, quo vadis?"
Rechtsruck in Europa: Haben wir die falschen Debatten geführt? — www.sueddeutsche.de
Warum ich das wichtig finde?
Dies ist wohl der wichtigste Text dieser Ausgabe. Am heutigen Sonntag ist die Stichwahl zur Entscheidung der französischen Präsidentschaftswahl. Und diese Wahl, das, was sich hier vor uns herauskristallisiert, ist nicht nur irgendeine Wahl in Frankreich. Es ist auch Teil des russisch-autokratischen Angriffsplans auf unsere Freiheit in der westlichen Welt. Der Teil, der viele, viele Jahre vorbereitet wurde und für den viele Menschen offensichtlich immer noch blind sind, weil er nicht so einfach zu erkennen ist, wie ein Angriffskrieg auf ein freies Nachbarland. Nils Minkmar geht der Frage auf den Grund, ob wir zu lange die falschen Debatten geführt haben. Er spricht eine unbequeme Wahrheit aus, der wir uns stellen müssen: Wir haben das Potenzial, die dümmste Generation zu werden, die der Westen je sah. Könnte sein. Wollen wir das sein?
Der Abend des 24. April wird so oder so ein ganz besonderer Moment im Leben des Wladimir Putin: Sein ganz großer politischer Triumph – er ist nah wie nie. [...] Mit dem überaus möglichen Wahlsieg seiner Weggefährtin Marine Le Pen in der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag fiele Putin sozusagen die Europäische Union, die Atommacht Frankreich und ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den Schoß. Nato und EU wären fortan mit sich selbst beschäftigt, der Westen politisch neutralisiert, bis auch in den Vereinigten Staaten gewählt wird und die Republikaner, von denen viele ihm nahestehen, auch dort wieder an die Macht kommen, wofür derzeit vieles spricht. Diese politischen, durch demokratische Wahlen erzielten Erfolge hätte Putin zur Abwechslung nicht durch Gewalt erzielt, sondern durch die Kultivierung einer im übrigen Europa vor lauter täglichem Haareraufen in Empörungsdingen völlig vergessenen Praxis: der strategischen Planung.
[...] es ist wirklich allerhöchste Zeit, wenn nicht zu spät, eine gesamteuropäische Identität zu besprechen. Auch in unserer Zeit bewahrheitet sich das Diktum des Heraklit, der vom Krieg als Vater aller Dinge schrieb. In der Reaktion auf Putins Plan, der mit der Ukraine ein freies Land überfiel, ist Europa aufgewacht wie nach einem Albtraum, bloß umgekehrt: Nur geträumt waren die gemütliche europäische Sicherheitsarchitektur und die Partnerschaft mit Russland. Real ist unsere große, drängende Gefahr und die Schwäche unserer Mittel, ihr zu begegnen. [...]
In all den Jahren, als man Putin als schlichten, korrupten Gasmann verkannte, den man mit Einladungen irgendwie zufriedenstellen konnte, ging Putin in Wahrheit einem ganz altmodischen Hobby nach, der Politik. Wie ein Modellbauer, der den ganzen Winter über im Keller an kühnen Entwürfen bastelt, um mit den ersten Sonnenstrahlen die Nachbarschaft mit Schiffen oder Flugzeugen zu verblüffen, hat der in weltanschaulichen Dingen schwer metaphysische Putin konzentriert, geschickt und nachhaltig an seinem Projekt für Europa und die Welt gewerkelt. [...]
Die geduldige Förderung der extremen Rechten in Frankreich war nur ein Detail seines umfassenden Plans. Weitere Elemente waren die Nutzung der weit offenen Lücken der sozialen Medien zur Verbreitung seiner Propaganda. Oder das gut terminierte Hacken von mangelhaft gesicherten Netzwerken wie jenem der Demokratischen Partei in den USA kurz vor den Wahlen 2016. Und noch mehr hatte er in seinem wohlsortierten Instrumentenkasten, etwa die Simulation von Freundschaft und Partnerschaft mit deutschen Christ-und Sozialdemokraten. Heute tun sie sich allesamt schwer, sich von der Erfahrung des Betrugs zu erholen, so kommt Putin bis auf Weiteres wirtschaftlich und politisch komfortabel über die militärische Enttäuschung von Kiew hinweg. [...]
Und wie es dazu kommen konnte, dass Europa sich in eine energetische und – es kommt nur noch auf den Zufall eines einzigen Wahltages am Sonntag an – politische Abhängigkeit zu einem Schwerkriminellen begeben hat. Dass es umgekehrt auch die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die mit Moskau zu tun hatten, nicht störte oder verwunderte, dass von dem fossilen Reichtum so wenig bis gar nichts in die Entwicklung des großen Landes floss. Als wollten die Machthaber im Kreml jederzeit verarmte, barbarische Rekruten in ihren Provinzen vorrätig haben, um sie auf andere Länder loszulassen. [...]
Die französischen Wahlen zeigen in brutaler Deutlichkeit die Erosion eines nationalen Parteiensystems, dessen Ruinen man auch in den anderen Ländern der Union noch pflegt. Längst ist es Zeit für gesamteuropäische politische Formationen, für einen demokratischen, sozialen und liberalen Plan, der über die Verwaltung der nationalstaatlichen Reste hinausgeht. Und was das beispielsweise auch für die Medien bedeutet: In der digitalen Öffentlichkeit löst sich Gegenwart auf in einen Strom von Einzelereignissen kurzfristiger Relevanz [...]
Mit der Fortsetzung dieser und unserer Narkosepolitik rechnet Wladimir Putin. Er spekuliert auf die postheroische Trägheit der reichen Länder des Westens, auf die Bereitschaft ihrer Eliten, die Illusion von guten Zeiten um jeden Preis weiter aufrechtzuerhalten, als sei die Geschichte wirklich mit dem Fall der Mauer beendet gewesen und als gehe es seitdem nur noch um die angenehme, politisch geräuschlose und anstrengungsbefreite Mikroverwaltung des Glücks. Dabei sind die ruhigen Zeiten für Europa vorbei.
Während ich diese Zeilen schreibe, sind die Wahllokale geöffnet. Der Ausgang ist ungewiss. Ich hoffe so sehr, dass wir mit einem blauen Auge davonkommen. Und vor allen daraus lernen und in den nächsten Jahren wachsamer mit der Zukunft unserer freien Gesellschaften umgehen.
Globalization Is Over. The Global Culture Wars Have Begun. — www.nytimes.com
Warum ich das wichtig finde?
David Brooks argumentiert in der New York Times, dass wir nach der Globalisierung nun einen globalen Wettbewerb erleben werden, der durch die Unterschiede in unseren Einstellungen zu "Freiheit, Gleichheit, persönlicher Würde, Pluralismus und Menschenrechten" angetrieben wird. Die Ideen der Modernisierungstheorie erscheinen ihm schwach wie nie. "Vierzig Jahre Globalisierung, technische Standards, globale Memes, Frappuccinos und Crossfit" seien nicht erfolgreich gewesen. Brooks sagt voraus, dass die kommenden Jahre der relativen Deglobalisierung es auch nicht sein werden. Vielmehr würden wir eine Reihe von Blöcken erleben, die mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Guten und nicht von Gütern konkurrieren. Von Unterschieden, die sich aus Werten und nicht aus (monetärem) Wert ergeben. Wie Brook es ausdrückt, wird es sich um "den Unterschied zwischen der Betonung der persönlichen Würde im Westen und der Betonung des gemeinschaftlichen Zusammenhalts im Rest der Welt" handeln, der von machthungrigen autokratischen Eliten in verschiedenen Teilen der Welt angeheizt wird.
[...] it was sometimes assumed that nations all around the world would admire the success of the Western democracies and seek to imitate us. It was sometimes assumed that as people “modernized,” they would become more bourgeois, consumerist, peaceful — just like us. It was sometimes assumed that as societies modernized, they’d become more secular, just as in Europe and parts of the United States. They’d be more driven by the desire to make money than to conquer others. They’d be more driven by the desire to settle down into suburban homes than by the fanatical ideologies or the sort of hunger for prestige and conquest that had doomed humanity to centuries of war. This was an optimistic vision of how history would evolve, a vision of progress and convergence. Unfortunately, this vision does not describe the world we live in today. The world is not converging anymore; it’s diverging. The process of globalization has slowed and, in some cases, even kicked into reverse. Russia’s invasion of Ukraine highlights these trends. While Ukraine’s brave fight against authoritarian aggression is an inspiration in the West, much of the world remains unmoved, even sympathetic to Vladimir Putin. [...]
The Chinese seem very confident that our coalition against Putin will fall apart. Western consumers won’t be able to tolerate the economic sacrifice. Our alliances will fragment. The Chinese also seem convinced that they will bury our decadent systems before too long. These are not possibilities that can be dismissed out of hand. But I have faith in the ideas and the moral systems that we have inherited. What we call “the West” is not an ethnic designation or an elitist country club. The heroes of Ukraine are showing that at its best, it is a moral accomplishment, and unlike its rivals, it aspires to extend dignity, human rights and self-determination to all. That’s worth reforming and working on and defending and sharing in the decades ahead.
SPD und Russland: Die Partei ist gefangen in ihrer Verflechtung — www.rnd.de
Warum ich das wichtig finde?
Für mich eines der großen Aufregerthemen aktuell: der Grad an Verflechtung und ideologischer Gefangenheit in Sowjet-Nostalgie und verklärtem Blick auf Russland in der SPD (wenngleich es natürlich richtig und wichtig ist, dass auch Union und FDP sehr willfährig Geschäfte und Politik mitgetragen haben, welche uns abhängig von Russland gemacht hat). Was hier mittlerweile rauskommt, und wie verbohrt einige Genossen hier an alten Weltbildern festhalten, ist für mich nur schwer zu ertragen.
Die SPD-Vertreter in der Bundesregierung und der Bundespräsident agieren wie unter Wasser, wie Superman in Gegenwart von Kryptonit, dem grünen Mineral, das ihn seiner Kräfte beraubt. Sie scheinen unter Schock, verarbeiten den Verrat, den Putin begangen hat. [...]
Stattdessen wird die Lösung verschoben – vor allem weil die SPD blockiert. Dabei unterwirft sich die Koalition der Angst, ihrer eigenen und der vieler Deutscher. Schließlich gilt die Lieferung von Waffen völkerrechtlich nicht als Kriegsbeteiligung. Wenn Putin „unvorhersehbare Konsequenzen“ androht und die deutsche Regierung dem folgt, dann ist das nichts anderes als vorauseilende Unterwerfung. Es ist außerdem gefährlich. Es ermutigt Putin nämlich, weiterzugehen.
Sehr lesenswert zu diesem Thema ist diese Kolumne von Markus Feldenkirchen. Er kann nur schwer verhehlen, wie groß sein Grad der Empörung ist. Er nimmt sich die Details rund um Manuela Schwesig und Nordstream 2 vor:
»Mecklenburg-Gazprommern« — www.spiegel.de Die »Stiftung Klima- und Umweltschutz MV« der Landesregierung von Manuela Schwesig war eine der größten Dummdreistigkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Und noch mehr. Gerhard Schröder poltert weiter als Elefant durch den Porzellanladen und setzt dem grotesken Treiben seiner Partei immer noch eine weitere Krone auf. Er hat der New York Times ein Interview gegeben. Der Titel könnte sein "Liebesgrüße nach Moskau".
How the Ex-Chancellor Gerhard Schröder Became Putin’s Man in Germany — www.nytimes.com
Gerhard Schröder, who is paid almost $1 million a year by Russian-controlled energy companies, has become a pariah. But he is also a symbol of Germany’s Russia policy.
Mr. Schröder distanced himself from the war, though not from Mr. Putin. I asked about the by-now notorious atrocities in Bucha, a Kyiv suburb. “That has to be investigated,” Mr. Schröder said, but added that he did not think those orders would have come from Mr. Putin, but from a lower authority.


Corona-Masken im Supermarkt: Nach der Pflicht kommt der soziale Druck — www.welt.de
Warum ich das wichtig finde?
Weil auch dieser Blick hier mal aufgegriffen werden muss. Die Lektüre dieses Artikels ist mir nicht leicht gefallen. Mir gefällt "Die Welt" nicht. Aus einer legitimen konservativen Zeitung ist mittlerweile ein absolut unredlich berichtendes Blatt mit ideologischer Agenda geworden. Gut und ausgewogen informieren kann man sich hier nicht. Dennoch finde ich es wichtig, regelmäßig zu schauen, wie und was konservative Redakteur*innen, unter ihnen definitiv einige, welche zutreffend als "Hetzer*innen" bezeichnet werden können, so schreiben. Und hier gibt es ein besonders schwer im Magen liegendes Stück. Susanne Gaschke, besonders an- und aufgekratzte Kolumnistin bei der Welt, schaudert es, nach einem Blick
„in die gesamte rot-grüne Samstagsvormittags-Bio-Einkaufsszene Deutschlands“.
Denn:
„Da sind alle durch [Karl Lauterbachs] Angst-PR schockgefrostet, da trägt immer noch jede(r) Maske!“
Gaschke nimmt das persönlich:
„Da sind alle ‚Taz‘-LeserInnen und Hyper-Vorbildliche längst dabei, maximalen moralischen Druck auf diejenigen auszuüben, die Freiheit und Eigenverantwortung anders verstehen – und ohne gesetzliche Vorschrift eben keine Maske mehr tragen wollen.“
Puh, dieser beißende Spott ist nur schwer zu ertragen. Aber ich finde, wir haben es hier mit einem sehr guten Beispiel dafür zu tun, worum es Konservativen, Reaktionären wie Gaschke wirklich geht. Bisher sah es ja so aus, als würde dieser Teil der Medien und ihrer Protagonist*innen allein gegen die Corona-Maßnahmen und für eine Freiheit von staatlichem Zwang kämpfen. Offensichtlich geht es aber vor allem um Freiheit vom Anblick von Masken. Es reicht nicht, dass Menschen sich nun in den meisten Bereichen wieder selbst aussuchen können, ob sie Masken tragen oder nicht. Jede freiwillig getragene Maske wird offensichtlich in dieser konservativ-freiheitlichen Ecke als Affront aufgefasst, als Vorwurf gegen sich selbst, die sie keine Masken tragen. Halten sie es nicht aus, wenn Menschen sich aus freien Stücken vorsichtig verhalten? Vielleicht aus der schlichten Abwägung heraus, dass das Tragen einer Maske ein relativ kleiner Preis ist, um die Gefahr einer Infektion zu reduzieren – selbst wenn diese Infektion einen erheblichen Teil ihres Schreckens verloren hat? Das hier ist ein sehr augenöffnendes Meinungsstück.
Hier gibt es noch ein paar weitere wertvolle Gedanken zur Einordnung:


Nochmal zum Thema "warum es Maskengegnern nicht reichen wird, dass sie keine Maske mehr tragen müssen": Ich schrieb ja im letzten Thread, dass die Projektion der Angst vom "Maske tragen" jetzt auf "Masken sehen" wechselt und warum. Es gibt einen zweiten Aspekt. Da geht's um Egoismus. Wir sind alle auch Egoisten, aber wir mögen es natürlich nicht, wenn er sichtbar wird, jedenfalls nicht dann, wenn wir damit in der Minderheit sind. Das Problem, wenn andere die Masken aufbehalten ist aber, dass genau das passiert. Daher kommen jetzt die Forderungen nach einem Maskenverbot: Alle sollen keine Maske mehr tragen, dann gibts keinen sichtbaren Unterschied mehr zwischen egoistischen und solidarischen Menschen.Egoisten sind nämlich so egoistisch, dass sie beim Egoist sein ihre Ruhe haben wollen, sogar vor ihrem eigenen Gewissen.
Eine Inventur des fossilen Zeitalters — www.mpg.de
Warum ich das wichtig finde?
Dies ist ein wirklich wertvoller Beitrag des Max-Planck-Instituts zur Debatte der Energiewende. Der Klimakatastrophe erfordert, dass wir uns von Erdöl und Kohle verabschieden. Hier wird herausgearbeitet, wie sehr unsere Gesellschaft, speziell unser Ideal von Freiheit und Wohlstand, in ungeahntem Maße von den fossilen Rohstoffen geprägt ist. Die Wissenschaftler*innen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin listen auf wie stark diese Abhängigkeit ist und welche Wege es gibt, davon loszukommen.
Nun ist das kein Appell, an der massenhaften Verbrennung klimaschädlicher Rohstoffe festzuhalten. Sondern einer, zu erkennen, dass es mit dem Umstieg auf den Elektromotor und dem Abschied von Plastiktüten nicht getan sein wird. Steininger fordert – und fördert – eine Befassung mit all dem immateriellen Erbe der fossilen Moderne, das bisher kaum im Fokus ist: „Seit zwei Jahrhunderten verschieben fossile Rohstoffe die Grenzen des technologisch Mach- und Erreichbaren, und damit unser Verständnis von Wachstum, von Freiheit, unser Begehren. Ein Haus, in dem man sich 200 Jahre eingerichtet hat, kann man nicht einfach so verlassen. Es braucht eine Inventur.“ [...]
Die Ethnologin weist darauf hin, dass es im Grunde nicht um eine, sondern um zwei Energiewenden geht – eine hin zu erneuerbaren und eine weg von fossilen Energien. Das wird spätestens deutlich, wenn sie sich mit weniger offensichtlichen Innovationen befasst, etwa mit der klimafreundlicheren, weil weniger CO2 freisetzenden Produktion von Zement und Stahl. „Technologisch ist das möglich“, sagt sie, „doch damit solche Produkte marktfähig werden, braucht es politische Ansätze – auch solche, die bisherige Techniken unattraktiv machen.“
Opinion: They Are the Heirs of Nazi Fortunes, and They Aren’t Apologizing — www.nytimes.com
Warum ich das wichtig finde?
Die New York Times wirft hier ein Schlaglicht auf eine sehr gerne unter den Teppich gekehrte Wahrheit in unserem Land: die Nazi-Vergangenheit vor allem von Industriellenfamilien und welche Rolle sie für den weiteren Erfolg der Familien und ihrer Unternehmen gespielt hat. In unserem Land, das eigentlich für seine Kultur des Reflektierens und Erinnerns bekannt ist, scheinen die reichsten Familien des Landes leider eine Ausnahme darzustellen.
Ein treffendes Beispiel: die Familie Quandt 👇
After the war ended, the Quandts were “denazified” in a flawed legal process in postwar Germany that saw most Nazi perpetrators get away with their crimes. In 1960, five years after inheriting a fortune from his father, Herbert Quandt saved BMW from bankruptcy. He became the company’s largest shareholder and began restructuring the company. Today, two of his children, Stefan Quandt and Susanne Klatten, are Germany’s wealthiest family, with near-majority control of BMW. The siblings manage their fortunes in a town near Frankfurt from a building named after their grandfather.
The modern-day Quandts can’t claim ignorance of the actions of their father and grandfather. The information above is included in a 2011 study commissioned by the Quandt dynasty four years after a critical TV documentaryexposed some of the family’s involvement in the Third Reich. Despite commissioning the study, which was conducted by a historian and a team of researchers, the BMW heirs seem to prefer to move on as though nothing had been learned.
In his sole interview in response to the study’s findings, Stefan Quandt described the family’s distancing from his father and grandfather as necessary but a “massive and painful” conflict.
Noch mehr Lesestoff und Inspiration
Viele junge Menschen würden lieber in der Vergangenheit leben — www.spiegel.de
Das hier ist ein echter Downer. Können wir irgendwo dran besser ablesen, dass wir uns mehr anstrengen müssen, eine wirklich lebenswerte und hoffnungsvolle Zukunftsvision zu entwickeln und auch ehrlich voranzutreiben? Laut einer Umfrage wünschen sich die 18- bis 34-Jährigen mehrheitlich ein Leben im Gestern. Vor einem Jahrzehnt sehnten sich die meisten dagegen in die Zukunft. Ursache sind nicht nur die unsicheren Zeiten...
How Putin’s Oligarchs Bought London — www.newyorker.com
Von der Bank bis zum Internat - das britische Establishment steht russischen Oligarchen seit langem zu Diensten und garantiert Diskretion. Ein Artikel, nach dem man erstmal tief durchatmen muss. Wahnsinn, wie wir im Westen regelrechten Dieben und Gaunern den Teppich auslegen und ihnen für Geld die Welt zu Füßen legen.
Dies und Das

Durchaus witziges Meme mit dem Corona-geplagten Lindner:
War noch was?
Das war es für heute. Ich wünsche Euch einen schönen Sonntag, und einen guten Start in die Woche! Hoffentlich einen, der uns nicht mit sehr schlechten Nachrichten aus Frankreich begleiten wird.