🗞️📚 #DRANBLEIBEN - Ausgabe #101
Heute: Apple Vision Pro Einschätzungen, Digitale Kunst, GenZ & New Work, Fossile Diskurse, Lügen und was ist Freiheit?
Hallo zusammen! Willkommen zur neuen Ausgabe meines Reading Digest Newsletters. Ein paar Leseempfehlungen aus den letzten Wochen. Und da ist von allem was dabei: “KI”, Technologie, Foresight und ganz wichtige gesellschaftliche Themen und die Debatten drumherum.
… ich hoffe, da ist wieder was für Euch dabei → 📰 📻👂👁️
On Jackpot Technologies, or, what Apple's new headset is actually *for* (Dave Karpf)
In dieser Woche hat Apple die langersehnte Produktpräsentation des seit vielen Jahren laufenden AR/VR/MR-Projekts durchgezogen. Um die Apple Vision Pro Goggles zu kommentieren und bewerten, mussten die gerade von Web3 auf “KI” umfirmierten LinkedIn Tech-Enthusiast-Bros einen kurzen Schlenker ins “Metaverse” machen (ja, Apple nutzt diesen Begriff nicht, und was bei der WWDC präsentiert wurde, dreht sich auch nicht um das Metaverse). Hier gibt es einen sehr interessanter, klugen, aber auch sehr bedrückenden Gedanken von Dave Karpf zum Thema. Dazu, was wir mit reifen Virtual Reality / Augmented / Mixed Reality Goggles in der Zukunft wohl so anfangen werden (sollen):
But in the longer term, I think “spatial computing”/computers-on-your-face will have a real niche. And the technical breakthroughs in the Vision Pro could matter a lot in the years to come. This could one day be remembered as a turning point.
In his product review, Nilay Patel writes: Apple has clearly solved a bunch of big hardware interaction problems with VR headsets, mostly by out-engineering and out-spending everyone else that’s tried. But it has emphatically not really answered the question of what these things are really for yet […]
Apple’s headset isn’t for anything right now. It’s, to borrow a phrase from William Gibson’s The Peripheral, a Jackpot Technology. It becomes increasingly compelling in a degraded future where much of what we take for granted in the present becomes less accessible.
Apple's Vision Pro headset deserves to be ridiculed (Paris Marx)
Hier gibt es noch eine Kommentierung der Apple Vision Pro. Paris Marx wirft hier ein wichtiges Spotlight auf das Thema, ob uns derartige digitale Technologie als Menschen näher zusammenbringt, oder uns gar noch viel weiter in die Isolation treibt. Wichtige Gedanken sind das. Bei der ganzen Tech Begeisterung rund um die Produktvorstellung und vor allem auch bei einigen der von Apple gezeigten Use Cases und Bildern frage ich mich wirklich, ob das hier alles “vom Menschen her gedacht” ist.
I can see a series of use cases for Vision Pro and similar products in certain work environments and for gaming experiences used by a niche community. But I don’t see a headset as a mass consumer product, regardless of how much the major tech companies want to make them happen — and have been trying to for years. They’re hoping headsets are the first step to more acceptable smart glasses, and we should head off that expectation as quickly as possible. The risk with Apple entering this market is that it does have a unique ability to legitimize products. A lot of early adopters buy its products simply because they’re made by Apple then find some reason to justify the product’s existence and their reason for purchasing it. There was a time in my life when I was one of those people — I always wanted the new Apple gadget — but these days I just don’t understand the need or desire to surround ourselves with so much digital tech. […] Even as Apple tried to emphasize the Vision Pro’s ability to allow its users to remain social and aware of the world around them, it was hard not to see it as adding to the isolation that many people already feel — a sense of isolation that has been advanced by the digital technology that surrounds us, even as it promises unparalleled connection.
Digitale Kunst: Bildermaschinen (Roland Meyer, ND)
Das hier wollte ich gerne mit euch teilen. Ich sehe das Thema “KI” und Kunst sehr zwiegespalten. Ja, es spannende Arbeiten und Experimente, z.B. von Refik Anadol. Aber ich glaube wir haben nicht mal annähernd verstanden, was es bedeutet, wenn “KI”, wenn Maschinen Werke erzeugen und ob das einen künstlerischen Wert haben kann. Dies hier hat mir auf jeden Fall einen wichtigen Denkanstoß gegeben. Muss Kreativität nicht unbedingt individuell sein, sondern kann auch als gesamtheitliche kulturelle Ressource angesehen werden?
Keine Frage, KI-Bildgenerierung, zumindest in ihrer derzeit verfügbaren Form, ist strukturell diskriminierend, basiert auf der Ausbeutung und Entwertung menschlicher Arbeitskraft und verbraucht nicht zuletzt riesige Mengen Energie. Sie ist, anders gesagt, ein typisches Produkt des extraktiven Kapitalismus. Und doch ist es schwer, sich ihrer Faszination zu entziehen. KI-Bildgenerierung ist ein Klischeeverstärker, aber eben darum kann sie die Stereotype, die unsere visuelle Kultur beherrschen, auch sichtbar machen und auf häufig überraschende, wenn nicht gar subversive Weise rekombinieren. Sie basiert auf der massenhaften Aneignung menschlicher Kreativität, aber eben darum gibt sie uns eine Vorstellung davon, was es bedeuten könnte, Kreativität nicht als bloß individuelle Fähigkeit zu betrachten, sondern als kulturelle Ressource, die kollektiv erforscht werden kann.
Die Generation Z floppt in der Arbeitswelt (Handelsblatt)
Das hier hat mich sehr geärgert, aber auch fast belustigt. Susanne Nickel, Managementberaterin und Begleiterin von Unternehmen in Transformationsprozessen bekommt vom Handelsblatt diese Plattform, um mit einer arbeits- und gesellschaftskulturellen Einschätzung aus der Mottenkiste die “GenZ” durch den Kakao zu ziehen. So polemisch und “ill-minded”, wie hier von oben herab junge Menschen diskreditiert werden, nur weil sie endlich das kritische Denken an den Tag legen, was ja sonst immer gefordert wird, frage ich mich, was ihre Klienten für Transformationsberatung erhalten. Transformationsbereatung aus dem Vorhof der Hölle wahrscheinlich. Ihr seht… mich triggert sowas….
Unter der Weltrettung machen sie es nicht. Denn die Wohlstandskinder der Generation Z fühlen sich zu Höherem geboren. Die Jahrgänge von 1995 bis 2009 schonen die Umwelt, essen vegan oder vegetarisch und damit vermeintlich gesünder – und auch zur Arbeit haben sie in erster Linie einen moralischen Bezug. […] Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber? Langfristige Perspektive? Dankbarkeit, dass das Unternehmen in mich investiert? Gilt alles nicht mehr für die Generation Z, wie auch die Generationenauswertung des Job-Netzwerks Xing ergeben hat. Fast jede und jeder Zweite der unter 30-Jährigen ist danach offen für einen Jobwechsel. […] Die Babyboomer verabschieden sich in die Rente, und die Unternehmen umwerben vorzugsweise die Generation Z, obwohl sie längst wissen, was ihnen blüht. Prädikat: jung, dynamisch und meist sehr anspruchsvoll. Mit einem Arbeitsverständnis, das beim „Ich“ und nicht beim „Wir“ ansetzt. […] Daher mein Appell an alle Personalchefs und Unternehmer: Lasst den Worten Taten folgen. „Stell dich auf Gen Z ein oder stell dein Unternehmen ein“, fordert ein bekanntes Sprachrohr der Z-ler selbstbewusst. Ich bin überzeugt: Wenn wir vor den Z-lern weiterhin buckeln, bekommen wir ein gesamtwirtschaftliches Problem.
Das Thema Arbeit und GenZ hat auch der Spiegel via Leitartikel aufgegriffen. Sehr ausgewogen und völlig anders und konstruktiv betrachtet. Definitiv lesenswert, in Gegensatz zu den Aussonderungen im Handelsblatt 👇:
Teilzeit, Freizeit, Auszeit: Warum die Generation Z anders arbeiten will – und damit jetzt alle ansteckt (Der Spiegel)
Wo arbeiten, wann und vor allem: wie viel? Um diese Fragen ist ein Konflikt entbrannt – die Forderungen von Berufseinsteigern können Unternehmen nicht ignorieren. Doch am Ende könnten alle profitieren.
Aber auch der Spiegel hat ein lustiges Gegengewicht, wo der 76-jährige, nicht loslassen wollende Gründer der Modemarke s. Oliver die Welt nicht mehr versteht, und mit Vorurteilen, Plattitüden und Rückwärtsgewandtheit um sich wirft:
s. Oliver-Gründer Freier über die Work-Life-Balance Jüngerer: »Ich finde Arbeit geil« (Der Spiegel)
Bernd Freier gründete die Modefirma s. Oliver und mischt mit Mitte 70 immer wieder im operativen Geschäft mit. Den großen Freizeitwunsch der Generation Z sieht er kritisch: »Vielen geht es zu gut.«
The Insufficient Weirdness Hypothesis (Jon Evans)
Das ist eine ganz tolle und wertvolle Betrachtung des Themas “Foresight” - können wir überhaupt noch halbwegs vielversprechende Zukunftsvorhersagen machen? Überhaupt einigermaßen vielversprechende Szenarienräume entwickeln? Oder liegen wir völlig daneben? Jon Evans empfiehlt, von heute in die Vergangenheit zu blicken und entsprechende Schlüsse zu ziehen. Im fehlen Hypothesen über die Zukunft, die genügend “Weirdness” haben:
Our future is going to seem really weird! We know this because a) the future has consistently seemed that way to its past for a considerable time now, b) the causes of this weirdness — the ever-tighter interconnection of humanity, the increased ease and speed with which butterfly-wing emergent properties spread across the world — are only accelerating and intensifying. […] I provisionally define “weird” as “the jarringly unexpected, especially when referring to the results of previously implausible/unlikely juxtapositions and/or events or forces significantly influenced by what had been unknown unknowns.” […] Does this mean we can’t forecast the future at all? Absolutely not! But it does mean that visions of the future which do not include great weirdness and unknown unknowns — ones which simply grimly extrapolate from today’s ephemeral trends — are guaranteed wrong. I call this the Insufficient Weirdness Hypothesis. […]
Fossile Diskurse (Harald Staun, FAZ)
Eine sehr schöne Sezierung des vergifteten Diskurses rund um Maßnahmen zur Klimapolitik, Energiewende und dringende nötige Transformation unseres Lebensstils. Und das in der FAZ (die leider sonst ganz anderen Meinungen, von der eher vergiftenden Ecke des Diskursraums Platz gibt), Chapeau!
Statt einer Debatte um eine vernünftige Klimapolitik erleben wir einen Kulturkampf, der angesichts der klaren Mehrheiten, die sich in Umfragen immer wieder für den Ausstieg aus den fossilen Energien aussprechen, fast schon selbstzerstörerisch wirkt. Im Prinzip sind wir auch für Klimaschutz, scheinen manche zu sagen – außer die Regierung ist auch dafür. Viele scheinen lieber zu ertrinken, als in ein regenbogenfarbenes Rettungsboot zu steigen. […] Zwei Drittel der Weltbevölkerung sehen die Klimakrise als „globalen Notfall“, ebenso viele sind für den Klimaschutz sogar zu persönlichen Einschränkungen bereit. Eine große Mehrheit hat die Notwendigkeit einer Transformation begriffen. Deren mediale Abbildung aber scheint in den Mustern und Konventionen eines auslaufenden Diskurses stecken zu bleiben, wie ein KI-System, das in den immer gleichen alten Gewissheiten gefangen ist. Das Bedürfnis, ihnen zu entkommen, ist keine Ideologie. Sondern eine Frage der zeitgemäßen Technik.
Die Lüge hat einen langen Atem (Johannes Schneider, Die Zeit)
Warum steht die AfDerJucken derzeit bei 18%? Hier gibt es eine gute, aber auch ernüchternde Einschätzung dazu, wie wir dahinkamen, dass Positionen, die die eigene Verantwortung von Menschen und Menschheit kleinreden, solch einen Aufwind haben. Eines der Themen, welches mich am allermeisten fertigmacht.
Später stellen wahrheitstreue Menschen dann bange Fragen: Wie sind wir nur in diesen Backlash geraten? Wie sind wir in eine Situation gekommen, in der mit Stilkritik an Klimaaktivistinnen und Detailkritik an regierungsgrünen Gesetzen gleich alle Ziele aus dem Blick zu geraten scheinen, und ein ganzer Diskurs in Halbwissen, Grünenhass und taktischer Verblödungsbereitschaft ertrinkt? Wie kamen wir dahin, dass Positionen, die die eigene Verantwortung von Menschen und Menschheit oder gar sichtbare Veränderungen kleinreden, Aufwind haben? Und in der, lange vor realen wirtschaftlichen Notlagen, der Popanz angeblich bettelarmer Immobilienbesitzer reicht, um in der Frage energetischer Gebäudesanierungen jeden Veränderungswillen zu ersticken? Als würden Hausbesitzer, Wohneigentümergemeinschaften und Baugenossenschaften in diesem Land nicht seit Jahrzehnten horrende Rücklagen für alles Mögliche bilden. […] Es ist kein zeitgemäßer Staat zu machen mit dieser politischen Öffentlichkeit, die gleich zu Beginn ernsthafter Transformationsbestrebungen landstrichweise in einfachen, aber deutlichen Mehrheiten sagt: Dann doch lieber Protofaschismus!“
Freiheit besteht in erfüllter Zeit (Eva von Redecker, Der Spiegel)
Eva von Redecker spricht hier über Freiheit und rückt den Begriff auf einer Art und Weise zurecht, der ich unbedingt zustimme. Ich finde, “Freiheit” als Begriff ist durch die trotzige Auslegung von Konservativen völlig ruiniert. Und was für eine Tragödie ist das? Von Redecker legt den Blick auf die zeitliche Komponente der Freiheit - und das ist sehr klug. Die wahre Freiheit liegt in der Zeit. Na, und wer hat davon wohl am meisten?
Tatsächlich gibt es seit einigen Jahren kein wirksameres Manöver, um progressive Forderungen auszuhebeln, als die Berufung auf Freiheit. Der zentrale Wert der 68er-Generation befeuert heute die Kampagnen von Meloni, Bolsonaro und Trump. Aber dahinter steht ein Freiheitskonzept, das nicht mehr zeitgemäß ist. Unsere Affektstruktur hinkt der Weltgeschichte hinterher. Wir müssen aufhören, räumlich auf die Freiheit zu schauen, und es stattdessen zeitlich tun. Nicht: Wo kann ich jetzt hin? Sondern zeitlich: Wie viel Zeit steht mir zur Verfügung und wie erfüllt ist sie? Ich will niemandem verdenken, sich frei zu fühlen, wenn er in den Urlaub fliegt. Aber die Freiheit kann doch nicht nur darin bestehen, ein paar Wochen im Jahr wegzukommen. Was ist mit den restlichen Wochen zu Hause? Das Gleiche gilt für die Freizeit. Wenn jemand nur am Wochenende Mensch sein kann, dann wirft das ein Licht auf seine Unfreiheit an den restlichen Tagen. Wenn unsere Arbeit weniger entfremdet wäre, müssten wir nicht aufs Wochenende warten oder auf den Jahresurlaub. Im Bleiben kann die größere Freiheit stecken.
Noch mehr gute Reads:
Extrem gute Erklärung, wie Quantum Computing funktioniert, bei der Financial Times: Quantum Computing could break the Internet. This is how.
Super creepy… TikTok-Accounts posten entsetzliche, von “KI” generierte Clips von Mordopfern - meist Kinder -, die ihr eigenes grausames Ableben beschreiben: AI Deepfakes of True-Crime Victims Are a Waking Nightmare
Die Zahl der Opfer unserer Konsumkultur steigt immer weiter - und die Gewinner sind auch klar… Von 1.000-Dollar-Turnschuhen bis hin zu 450-Dollar-Backformen hat die Gier mancher Menschen nach teuren Dingen neue Höchststände erreicht: The surprising reason luxury goods are booming
Das israelische Startup Steakholder Foods stellt nach eigenen Angaben das erste küchenfertige Filet der Welt her, das innerhalb von Minuten vom Drucker auf den Teller kommt: From Fruit Roll-Ups to a fish filet, Israeli startup ready to feed its printer
Wissenschaftler*innen haben eine ganze Reihe von Lösungen zur Umwandlung von Wellenenergie entwickelt, die die Energie von Meereswellen einfangen und nutzen, darunter Hightech-Bojen und Matten, die sich unter der Wasseroberfläche ausbeulen und zusammenziehen: Can ocean waves power the grid? New technology is bringing us closer than ever.
Forscher*innen hoffen, Mikroben, welche sich auf natürliche Weise zur CO2-Absorption entwickelt haben, als effiziente Methode zur Entfernung des Treibhausgases aus der Atmosphäre nutzen zu können. Die Abkehr von der Verbrennung fossiler Brennstoffe ist entscheidend für die Beendigung der Klimakrise, aber die meisten Wissenschaftler*innen sind sich einig, dass das CO2 auch aus der Luft entnommen werden muss, um künftige Schäden zu begrenzen: Volcanic microbe eats CO2 ‘astonishingly quickly’, say scientists
Was die Zahlen sagen: Die Verletzungsrate bei Amazon war im vergangenen Jahr um 70 % höher als in anderen Lagerhäusern. Die "schweren Verletzungen" bei Amazon, die als Verletzungen definiert werden, die die Arbeitnehmer daran hindern, ihre regulären Aufgaben zu erfüllen, oder sie zwingen, sich eine Auszeit von der Arbeit zu nehmen, sind mehr als doppelt so hoch wie in anderen Lagerhäusern: Amazon's Continuing Failure to Fix Its Injury Crisis
Na das wird klasse… Neuralink, das Unternehmen für Gehirn-Computer-Schnittstellen von Elno Musk, hat von der FDA die Genehmigung erhalten, seine erste klinische Studie an Menschen durchzuführen: FDA grants Neuralink approval for trials with humans
Gute Updates:
Das war es für diesmal. Habt ein schönes Wochenende und einen guten Start in die neue Woche! Bis bald!