🎯 #DRANBLEIBEN (Deep-Dive)
#172: Europäischer Digitalgipfel - Digitale Unabhängigkeit... von was nochmal genau?
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Der deutsch-französisch organisierte europäische Digitalgipfel liegt jetzt ein paar Tage zurück, und ich wollte mir unbedingt genauer anschauen, was da eigentlich passiert ist. Offiziell ging es um „digitale Souveränität“. Ein Thema, das für Europa gerade so etwas wie das neue Allheilversprechen geworden ist.
Falls du nur die Headlines gelesen hast, hier schon mal die vordergründigen Eindrücke: viel Pathos, große Bühne, viele Kameras. Deutscher Kanzler und französischer Präsident, EU-Kommissionsleute, Industriegrößen, Start-ups. KI hier, Cloud da, EuroStack dort. Ein Treffen, das den Eindruck erwecken sollte: Europa meint es jetzt ernst.
Aber wenn man sich durch Ankündigungen, Presseberichte und die eigentliche Substanz arbeitet, bleibt zumindest bei mir ein anderes Gefühl hängen. Als sei das alles vor allem symbolisches Europa-Theater gewesen. Mit Fokus auf Industrieinteressen, mit erstaunlich wenig Zivilgesellschaft und mit einem sehr engen Verständnis davon, was „Souveränität“ eigentlich heißen müsste.
Genau das will ich heute für dich auseinandernehmen: Was war dieser Gipfel eigentlich? Wie ist er einzuordnen? Und warum wirken viele der dort präsentierten Pläne und Versprechen eher wie eine PR-Folie als wie ein ernsthafter Schritt zu echter Unabhängigkeit?
Lass’ uns reinschauen!
Was war das eigentlich und wer saß am Tisch?
Wenn man den Gipfel auf das Wesentliche runterbricht, bleibt erstmal ein ziemlich klassisches europäisches Format übrig: Deutschland und Frankreich laden ein, geben sich geeint, betonen „den europäischen Weg“. Und setzen sich dann gemeinsam mit Industrie, Verbänden und ein paar Start-ups hin, um über die digitale Zukunft zu sprechen. Offiziell ging es um große Linien:
Wie machen wir Europa unabhängiger von US-Clouds und chinesischer Hardware?
Wie bauen wir eigene KI-Modelle auf, die nicht komplett von Big Tech abhängen?
Wie schaffen wir technische Infrastrukturen, die mehr nach Europa aussehen und weniger nach Amazon Terms of Service?
Auf der Bühne saßen: die Spitzen aus Berlin und Paris, EU-Kommissar*innen, CEOs von SAP, Mistral und anderen großen Playern, Vertreter*innen aus der Automobil-, Versicherungs- und IT-Industrie. Kurz: die Akteur*innen, die ohnehin schon viel Einfluss auf die Debatten haben.
Wer eher nicht sichtbar war: Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Open-Source-Communities, digitale Grundrechte-Organisationen, Menschen, die sonst sehr klar formulieren, welche Bedingungen ein wirklich souveränes Europa bräuchte. Sie durften zuhören, aber nicht gestalten.
Wenn man sich das Programm durchliest, sieht man auch ziemlich schnell, welche Themen Priorität hatten: neue KI-Kooperationen, industriepolitische Standortfragen, Bürokratieabbau, Kapitalmarktintegration. Also alles, was kurzfristig Wachstum versprechen soll, aber wenig darüber sagt, wie Europa strukturell unabhängiger werden kann. Für mich ein Gipfel, der offiziell „Souveränität“ im Titel trägt, aber vor allem wie ein Treffen wirkt, das die bestehende Industrie stärken will.
Wie die Wirtschafts- und Leitmedien den Gipfel gelesen haben
Wenn man nur nach der Berichterstattung geht, könnte man fast glauben, der Gipfel sei der Startschuss für ein neues europäisches Digitalzeitalter gewesen. Die gängigen Wirtschaftsmedien haben das Treffen größtenteils als „endlich passiert mal was“-Moment gerahmt. Eher technokratisch, oft wohlwollend. Und mit dem üblichen Fokus auf Deals, Milliarden und geopolitischer Schlagkraft.
Die Grundtöne ließen sich in etwa so sortieren:
1. „Europa muss aufholen.“
ZEIT, FAZ & Co. betonen vor allem die Risiken der Abhängigkeit von US-Clouds, VMware-Übernahmen, chinesischen Chips und proprietären KI-Stacks. Der Sound:
Wir müssen schneller werden. Weniger Regeln. Mehr Kapital. Europa darf den Anschluss nicht verlieren. Das ist die klassische Standort-Logik: neutral, nüchtern… und am Ende trotzdem erstaunlich nah an der Industrieagenda.
2. „Digitale Champions, bitte.“
Das Handelsblatt inszeniert die neuen KI-Kooperationen – SAP & Mistral, Mercedes & Black Forest Labs, Allianz & Parloa - als europäische Meilensteine. Der Tenor: Wenn wir unsere eigenen großen Player bauen, kommt die Souveränität von selbst. Also: Souveränität = Marktmacht. Als wäre das eins zu eins dasselbe.
3. „Souveränität hat drei Buchstaben.“
Ein Kommentar in der WirtschaftsWoche bringt es – unfreiwillig ehrlich – auf den Punkt: SAP sei Europas einzige digitale Souveränität. Der Wunsch dahinter ist klar: ein zweites, drittes, viertes SAP. Und zwar möglichst bald.
Was in dieser Berichterstattung aber kaum vorkommt:
die Frage, wem diese Souveränität eigentlich dienen soll/wird,
welche Rolle offene Infrastrukturen spielen müssten,
oder warum demokratische Kontrolle im Digitalen genauso relevant ist wie geopolitische Unabhängigkeit.
Aus meiner Sicht haben viele der großen Leitmedien den Gipfel wie ein Wirtschaftsereignis betrachtet, nicht wie ein politisches. Und deshalb fehlt für mich in vielen Einschätzungen genau das, worum es eigentlich gehen müsste: Machtverhältnisse, Gemeinwohl, digitale Grundrechte und die Frage, wie Europa wirklich unabhängiger werden kann.
Der Gipfel weist viele blinde Flecken auf
Während die Wirtschaftsmedien den Gipfel als ordentlichen europapolitischen Aufschlag gefeiert haben, würde ich gerne eine ehrlichere und, wie ich denke, realistischere Einschätzung zum Gipfel machen. Ein paar Gedanken dazu:
Souveränität wird zu Standortpolitik heruntergekocht
Im Kontext dieses Gipfels wird „digitale Souveränität“ fast ausschließlich als industriepolitisches Projekt verstanden. Gemeint ist also:
weniger Abhängigkeit von US-Konzernen,
mehr europäische Produkte,
und ein bisschen geopolitische Resilienz.
Was fehlt: die Perspektive, dass Souveränität auch etwas mit demokratischer Kontrolle, Transparenz, offenen Infrastrukturen und Wahlfreiheit zu tun hat.
Die Lösung klingt nach: einfach weniger Regeln
Der einen Tag nach dem Gipfel verkündete, und im Geiste schon während des Gipfels mitschwingende „Digital-Omnibus“, also das groß angekündigte Bürokratieabbau-Paket, sehe ich kritisch. Nicht, weil Bürokratie so schön wäre, sondern weil hier genau die Gesetze zur Disposition gestellt werden, die Europa aus meiner Sicht bisher stark und differenziert gemacht haben. Dazu zählen:
Datenschutz,
Grundrechte,
Vorgaben aus dem AI Act.
In diesem Zuge wird ein klassisches Wettrennen-Narrativ bemüht. Je schneller wir die USA einholen wollen, desto eher und schneller wird Regulierung zum Feind erklärt. Statt zu einem Instrument, das Innovation lenkt, nicht bremst. Die Frage, welche Innovationen wir in Europa politisch überhaupt wollen, wurde beim Gipfel nicht gestellt.
Wer die Macht hat, sitzt auf der Bühne… wer sie hinterfragt, im Publikum
Das Programm selbst verrät viel: Panels mit Industrie, CEOs, Start-ups… und daneben jede Menge Expertise, die zwar eingeladen, aber nicht gestaltet hat: Open-Source-Communities, digitale Grundrechtsorganisationen, Wissenschaft, Public-Interest-Tech.
Viele der Vorschläge aus diesen Kreisen, die echte Souveränität stärken könnten, z.B.
Fediverse-Förderung
öffentliche digitale Infrastruktur
Gemeinnützigkeit von Open Source
Transparenzpflichten
… tauchten im offiziellen Ergebnis schlicht nicht auf.
Das ist kein Zufall. Denn der Gipfel war so aufgesetzt, dass er bestehende Interessen stärkt, nicht neue Perspektiven hineinholt. Ich bin überzeugt, dass sich genau das sich langfristig rächen wird.
Big Tech ist der Elefant im Raum
Ein Widerspruch zieht sich durch den gesamten Gipfel: Während auf den Panels viel über „digitale Unabhängigkeit von US-Tech“ gesprochen wurde, saßen genau diese US-Techfirmen längst wieder mit am Tisch. Microsoft, Google, AWS – mal direkt, mal über verbundene „europäische“ Initiativen – präsentierten ihre Dienste als Bausteine für ein souveränes Europa. Es gab neue Cloud-Deals, gefeierte Investitionszusagen, Rechenzentrumsankündigungen.
Was auf dem Papier europäisch wirkt, bleibt in der Tiefe US-dominiert: denn die Rechenzentren unterliegen dem US-Cloud Act. Die Daten können bei Bedarf von US-Behörden eingesehen werden. Und die Anbieter behalten faktisch die Kontrolle über Infrastruktur, auf die Europa langfristig angewiesen ist.
Kritiker*innen sprechen inzwischen von „Souveränitäts-Washing“. Denn solange keine messbaren Zwischenziele existieren, um die Marktanteile von US-Hyperscalern bis 2030 tatsächlich zu reduzieren, bleibt das alles ein Etikettentausch: alte Abhängigkeit, neuer Name.
Open Source als Problemfall, nicht als Hebel
Der vielleicht auffälligste blinde Fleck: Open Source taucht zwar im offiziellen Text auf, wird dort aber schnell relativiert. Die Formulierung läuft sinngemäß auf „Open Source ja, aber nur wenn sicher, und bitte ergänzt durch proprietäre Technologie“ hinaus.
Das ist ungefähr das Gegenteil dessen, was nötig wäre. Die europäischen Regierungen sagen „Souveränität“, meinen aber „bitte ein EU-Logo auf proprietäre Angebote“. ZenDiS – die staatliche Stelle, die Open-Source-Migrationen koordinieren soll – war kaum präsent. Der Open-Source-Pavillon beim Rundgang? Eher Pflichthalt als echtes Interesse. Und die Projekte, die kurzfristig Abhängigkeiten reduzieren könnten, spielen in den offiziellen Narrativen fast keine Rolle.
Fehlende Klarheit beim Kernbegriff „Unabhängigkeit“
Ein sehr wichtiger Kritikpunkt (und etwas, das leider oft passiert, weil Sprache und Genauigkeit so schnell vernachlässigt werden): Niemand sagt klar, wovon Europa unabhängig werden will. Von Hyperscalern? Von proprietären KI-Modellen? Von US-Backbones? Von chinesischer Hardware? Oder von allem gleichzeitig?
Der Gipfel behauptet „Souveränität“, liefert aber kein konsistentes Bild, was das eigentlich umfassen müsste. Oder wer das kontrollieren sollte.
Ich finde, der Gipfel wollte ganz offensichtlich Stärke signalisieren, aber hat vor allem gezeigt, wie eng wir in Europa unsere digitale Zukunft denken (zumindest in solchen Foren). Nämlich zu eng, zu industriefokussiert und mit zu wenig Mut, die eigenen Strukturen wirklich zu verändern.
Warum diese Art von „digitaler Souveränität“ nicht trägt
Wenn man all die Reden, Panels und Presseberichte zusammenlegt, entsteht folgendes Bild: Europa soll unabhängiger werden, seine eigenen Technologien bauen, im KI-Rennen mithalten, und weniger abhängig von US-Clouds und chinesischer Hardware sein. Das klingt nicht unvernünftig.
Das Problem dabei ist, dass genau diese Art von Souveränitätsverständnis uns nicht raus aus den Abhängigkeiten führt. Sie verschiebt sie höchstens. Und manchmal macht sie sie sogar größer. Einige Gründe stechen für mich besonders hervor.
Souveränität wird mit „mehr Industrie“ verwechselt
Die politische Logik ist simpel: Wer eigene Champions baut, wird unabhängiger. Aber wenn Souveränität am Ende bedeutet, dass wir große europäische Softwarekonzerne schaffen, die dieselben Machtstrukturen aufbauen wie Amazon, Google oder Microsoft – nur eben in Blau-Gelb, oder sonstwas – dann ist nichts gewonnen. Dann tauschen wir lediglich das Herkunftsland des Lock-ins aus.
Souveränität heißt nicht: „Wir brauchen unser eigenes OpenAI, oder unser eigenes SAP für KI.“ Souveränität heißt doch eigentlich: „Wir müssen die Regeln der Infrastruktur bestimmen, auf der wir alle arbeiten.“
Das ist für mich ein fundamentaler Unterschied. Und genau dieser Unterschied ging auf dem Gipfel komplett verloren.
Regulierung wird als Problem markiert und nicht als Werkzeug
Der Gipfel hatte eine klare Botschaft: Europa muss schneller werden. Dafür brauchen wir weniger Regeln. Das klingt nach Modernisierung, schafft aber ein Risiko. Wenn wir die Gesetze aufweichen, die unsere digitale Grundordnung schützen – Datenschutz, Transparenz, Rechenschaft, Fairness –, dann schaffen wir kurzfristig vielleicht ein bisschen „Wachstumsgefühl“. Aber langfristig verlieren wir genau die Stärke, die Europa weltweit ausmacht. Nämlich verlässliche Rahmenbedingungen, die Bürger*innen und Unternehmen schützen (und zwar mit Strahlkraft und Potential weit über Europa hinaus).
Hier ist meine Meinung (aber das ist nicht sehr populär in diesen Tagen), dass Regulierung nicht der Feind ist. Regulierung ist ein Steuerungsinstrument. Und zwar das einzige, das Europa wirklich unabhängig macht. Wenn wir sie abbauen, schwächen wir uns selbst.
Der Fokus liegt auf Frontier-KI… also dort, wo Europa am wenigsten Einfluss hat
Ein großer Teil der Gipfeldiskussion drehte sich um High-End-Modelle, Compute-Power und KI-Modelle in der Größenordnung von OpenAI oder Google. Klingt ambitioniert, ist aber paradox. Denn genau in diesem Segment ist Europa am stärksten abhängig:
von US-Hyperscalern (für die Rechenzentren),
von Nvidia (für die Hardware),
und von geschlossenen Modellen, die weder auditierbar noch wirklich europäisch kontrollierbar sind.
Wenn wir unsere politische Hoffnung ausgerechnet auf den Bereich setzen, der am stärksten von anderen gesteuert wird, dann schaffen wir keine Souveränität. Wir definieren sie nur in einem Spielfeld, das andere besitzen.
Der eigentliche Hebel – öffentliche digitale Infrastruktur – fehlt vollständig
Was Europa eigentlich bräuchte sind:
offene Protokolle,
starke Open-Source-Basisprojekte,
europäische Public-Cloud-Komponenten,
digitale Grundrechte,
eine Infrastruktur, die nicht irgendeinem Konzern gehört.
Alles Dinge, die sofort Wirkung hätten. Und Dinge, die dauerhaft Unabhängigkeit schaffen könnten. Aber genau diese Themen spielten auf dem Gipfel höchstens eine Nebenrolle. Und wenn sie auftauchten, dann eher in der bereits skizzierten Form von: „Open Source, aber bitte nur, wenn’s nicht stört.“
Souveränität ohne Governance ist ein leeres Versprechen
Am Ende bleibt noch eine weitere sehr wichtige Frage stehen, die beim Gipfel niemand ernsthaft gestellt hat:
Wer kontrolliert eigentlich diese neue europäische digitale Infrastruktur?
Regierungen?
Unternehmen?
Eine Mischung?
Öffentliche Einrichtungen?
Multi-Stakeholder-Modelle?
Ohne klare Governance bleibt „Souveränität“ ein schönes Wort, das am Ende doch wieder von denselben fünf Akteuren gefüllt wird, die gerade global den Ton angeben. Das ist viel mehr Etikett als tragfähiges Zukunftsmodell. Digitale Souveränität als politisches Projekt fehlt derzeit leider.
Digitale Abhängigkeit ist nicht abstrakt. Sie ist real, politisch und riskant.
Unsere digitale Abhängigkeit ist nicht nur technisch oder ökonomisch. Sie ist auch zunehmend geopolitisch riskant. Ganz konkret zeigt die Realität in den USA, wie fragil das digitale Fundament Europas geworden ist. Microsoft hat ohne Vorwarnung internationalen Richter*innen den Zugang zu Plattformen gesperrt. Datenschutzrechte lassen sich dort mit einer Executive Order aushebeln. Trump plant per Executive Order, den Bundesstaaten die Regulierung von KI zu verbieten. Ein Szenario, das selbst Trump-nahe Republikaner beunruhigt. Und die FTC ist faktisch daran gescheitert, Meta juristisch in die Schranken zu weisen.
Was das mit Europa zu tun hat? Alles. Denn solange wir unsere Kommunikationskanäle, Rechenzentren und Datenverarbeitung auf Plattformen auslagern, die jederzeit derartigen politischen (und autokratischen) Zugriffen unterliegen, ist „digitale Souveränität“ nur heiße Luft. Die USA, auf die wir große Teile unserer digitalen Infrastruktur stützen, sind politisch nicht mehr verlässlich. Und selbst wenn sie es wären, sie folgen einer ganz anderen Logik. Nämlich Unternehmen schützen, Macht bündeln, Plattformdominanz absichern.
Für Europa muss die Ableitung sein, dass digitale Souveränität keine strategische Kür ist. Sie ist eine Notwendigkeit. Gerade dann, wenn das politische Klima weltweit kippt. Ich finde es erstaunlich, wie selten solche Zusammenhänge auf Gipfeln wie dem in Berlin offen ausgesprochen werden. Als hätte man Angst, dass zu viel Realismus die Investitionslaune verdirbt
Wie ein anderes Verständnis von europäischer digitaler Souveränität aussehen könnte
Wenn man Souveränität nicht nur als wirtschaftliche Schlagkraft versteht, sondern als Frage von Kontrolle, Gestaltungsmacht und Wahlfreiheit, kann ein anderes Bild entstehen. Kein romantisches, kein technikfeindliches, aber ein realistischeres. Eines, das Europa tatsächlich unabhängiger machen würde. Dafür sind für mich ein paar Linien von zentraler Bedeutung:
1. Souveränität beginnt bei der Infrastruktur
Europa braucht nicht zwingend eigene „Frontier“-Modelle im Stil von OpenAI oder Google. Europa braucht Infrastruktur, die vertrauenswürdig, offen und auditierbar ist.
Das heißt konkret:
offene Protokolle wie ActivityPub systematisch fördern,
Public-Interest-Clouds aufbauen, die nicht auf proprietären Locks basieren,
Open-Source-Basisprojekte wie Betriebssysteme, Datenbanken, Sicherheitslayer öffentlich finanzieren,
Migrationen im öffentlichen Sektor konsequent vorantreiben (statt sie in Pilotphasen versanden zu lassen).
Das sind dann keine Prestigeprojekte, wo man sich mit großen Tech-Namen schmücken kann (aber wieso sollte man das im Kontext “europäische digitale Souveränität” überhaupt wollen?), aber genau diese Ebene entscheidet in meinen Augen darüber, wer in Zukunft bestimmt, wie Europa digital funktioniert.
2. Souveränität braucht Governance, nicht nur Konsortien
Wenn Europa ernsthaft eigenständig sein will, muss klar sein, wer die Regeln macht. Und vor allem: wer nicht. Das bedeutet:
Multi-Stakeholder-Modelle, in denen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und öffentliche Institutionen nicht nur „gehört“ werden, sondern echten Einfluss bekommen.
Transparente Entscheidungswege für digitale Großprojekte.
Klare Rechenschaftspflichten für KI-Modelle, Dateninfrastrukturen und öffentliche Digitalprojekte.
Souveränität ist nichts, was man einkaufen kann. Sie entsteht durch Strukturen, die Macht verteilen. Nicht noch weiter bündeln.
3. Souveränität heißt Wahlfreiheit, nicht nur Wettbewerbsfähigkeit
Der Gipfel hat Souveränität fast ausschließlich als „Strategiefähigkeit gegenüber USA und China“ gerahmt. Aber für Bürger*innen und Organisationen bedeutet Souveränität etwas viel Alltäglicheres:
Wahlfreiheit zwischen Systemen,
Wechselmöglichkeiten ohne Lock-in,
transparente Technologien, die überprüfbar sind,
sichere digitale Grundrechte.
Ein Europa, das diese Freiheit ernst nimmt, müsste technologische Vielfalt ermöglichen anstatt alles in Richtung weniger großer Player zu konzentrieren, nur diesmal mit EU-Plakette.
4. Souveränität braucht Gemeinwohlorientierung, nicht nur Industriepolitik
Digitale Infrastruktur ist kein normales Marktprodukt. Sie ist ein gesellschaftlicher Raum von enormer Bedeutung. Solche Räume brauchen Haltung. Ein wahrhaft souveränes Europa müsste deshalb fragen:
Welche Technologien stärken demokratische Prozesse?
Welche Infrastruktur ermöglicht Selbstbestimmung (individuell wie kollektiv)?
Welche digitalen Werkzeuge gehören in öffentliche Hand?
Welche Daten sollten nie privat kontrolliert werden, egal von wem?
Das sind unangenehme Fragen, aber sie sind unglaublich wichtig für uns. Ohne sie bleibt Souveränität ein Marketingbegriff, der nett klingt und wenig verändert.
5. Und ja: Industriepolitik gehört dazu, aber nicht als alleinige Antwort
Europa braucht selbstverständlich starke Technologieunternehmen. Aber sie dürfen nicht die einzigen Architekturen unserer digitalen Zukunft definieren. Wir haben ja in und aus den USA gesehen, was passiert, wenn man das zulässt. Eine souveräne Strategie muss daher zweigleisig sein:
Industrie stärken…
und digitale Commons, Bildung, Forschung und Governance-Strukturen mindestens genauso stark machen.
Das eine ohne das andere führt nur zum nächsten Abhängigkeitszyklus.
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Was wir aus diesem Gipfel wirklich lernen sollten
Wenn man den Gipfel jetzt einmal sacken lässt, bleibt in meiner Einschätzung weniger „historischer Moment“ übrig, als manche Reden suggeriert haben. Dafür treten ein paar Dinge umso klarer hervor.
1️⃣ Europa hat ein echtes Interesse daran, weniger abhängig zu sein, aber oft nicht die richtigen Prioritäten. Die Energie fließt in große Deals, prestigeträchtige Modelle und industriepolitische Symbolik. Die eigentlich wirksamen Hebel – offene Infrastrukturen, öffentliche digitale Güter, klare Governance – sind dagegen eher Randnotiz.
2️⃣ „Digitale Souveränität“ ist inzwischen ein politisches Schlagwort, das jede*r mit eigenen Bedeutungen füllt. Die einen meinen Marktmacht, die anderen meinen Sicherheit. Wieder andere meinen digitale Grundrechte. Solange Europa sich nicht ehrlich macht, wovon wir eigentlich unabhängig werden wollen und warum, bleibt der Begriff ein Platzhalter. Das mag gut sein für solche Reden, wie sie in diesen Foren gehalten werden, ist aber schlecht für Fortschritt.
3️⃣ Wir unterschätzen immer noch, wie sehr digitale Strukturen politische Strukturen sind. Wer Infrastruktur baut, baut Macht. Und wer Macht verteilt, baut Souveränität. Das passiert nicht auf Panels, das passiert durch Entscheidungen. Und die sind selten glamourös: Förderprogramme für Open Source, Migrationen im öffentlichen Sektor, klare Standards, unabhängige Auditierbarkeit, verlässliche Regulierung.
Mein Eindruck nach diesem Gipfel ist, dass Europa definitiv bereit ist, große Worte zu machen. Aber noch nicht bereit ist, die unbequemen Schritte zu gehen, die echte Unabhängigkeit bräuchte. Leider ist genau das der Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Nicht bei der Frage, wie wir „aufholen“. Das ist eine Nebelkerze. Es muss um die Frage gehen, wie wir die digitale Zukunft so gestalten, dass sie unserem politischen Selbstverständnis entspricht: demokratisch, verlässlich, kontrollierbar und offen.
Mir ist wichtig, folgendes klar zu sagen: Ich halte digitale Souveränität nicht für eine leere Hülse, im Gegenteil. Ich halte sie für eines der zentralen politischen Projekte Europas in den nächsten Jahren. Aber dafür reicht es nicht, Industriepolitik zu machen. Dafür müssen wir Macht neu verteilen. Und Infrastruktur neu denken. Und auch die Rolle der Zivilgesellschaft neu gewichten.
Und natürlich brauchen wir starke europäische Technologieunternehmen. Aber wir dürfen dabei nicht den gleichen Fehler machen wie in den USA. Nämlich gemeinwohlorientierte Ziele, kritische Stimmen und unabhängige Infrastrukturen unter die Räder eines vermeintlich alternativlosen Wachstumsnarrativs geraten zu lassen. Souveränität ist nicht, wenn alle mitreden dürfen… und am Ende trotzdem dieselben entscheiden. Souveränität ist, wenn wir die digitale Zukunft selbst gestalten. Im Interesse aller, nicht nur weniger.
P.S. Hier ist noch eine 1a-Podcast-Empfehlung. Die unfassbar phantastische Ex-Staatsanwältin, die die Strafverfolgung des Cum-Ex-Skandals möglich gemacht hat, ist zu Gast bei Jagoca Marinic. Wenn du diesem Gespräch zuhörst, kannst du dir besser vorstellen, dass auch eine andere digitale Welt möglich ist. Es braucht nur die Integrität und Energie von Menschen wie Anne Brorhilker. Wahnsinn, was das für ein klares und erfrischendes Gespräch ist!
Das war es für heute. Bitte leite oder empfehle den Newsletter doch gerne weiter ➡️ ✉️ - das würde mir sehr helfen. Danke dir für die Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal!






