🏃♀️ #DRANBLEIBEN (Die schnellen 3)
#153: Lesen. Sprechen. Hören. Was verloren geht, wenn Tech mitspielt.
Du liest #DRANBLEIBEN - Einordnungen zu Tech und Gesellschaft, von André Cramer. Ich bin Berater, Speaker und Podcast-Host von DRANBLEIBEN - Gespräche über unsere Zukunftsoptionen und Code & Konsequenz - Tech-Industrie Reflexionen. Find me on LinkedIn!
Sind wir eigentlich noch bei uns selbst, wenn wir sprechen wie Maschinen, lesen wie Scanner, hören wie Filter?
Neue Technologie hat seit jeher verändert, wie wir leben, denken, sprechen. Mal langsam, über Jahrzehnte. Mal dramatisch, innerhalb einer einzigen Generation. Der Buchdruck löste Ängste aus, dass das lebendige Weitergeben von Wissen durch tote Lettern ersetzt würde. Beim Radio warnten Intellektuelle vor Massenmanipulation. Als der Taschenrechner kam, hieß es, wir würden das Rechnen verlernen. (nun… vielleicht haben wir das auch…) Später: Internet, E-Mail, Smartphones. Und mit jeder Welle die gleichen Stimmen. Das zerstöre unsere Kultur. Unsere Aufmerksamkeit. Unser Denken.
Und oft stellte sich heraus: So ganz stimmte das nicht. Unsere Gesellschaften fanden Wege, sich neu zu sortieren. Medienkompetenz wuchs. Unsere Adaptionsfähigkeit funktionierte. Die Welt ging nicht unter. Sie wurde oft sogar reicher, zugänglicher, vernetzter. Meistens über große Zeitläufe.
Doch diesmal, mit der digitalen und KI-getriebenen Revolution, habe ich das Gefühl, dass etwas anders ist. Die Veränderung passiert viel schneller. Sie greift tiefer in unser Innerstes. Und sie gibt uns kaum noch Zeit, zu verstehen, was eigentlich passiert. Noch während wir über die Folgen der letzten Plattform diskutieren, rollt schon die nächste Welle heran: Sprachmodelle, Auto-Responder, KI-generierte Stimmen, Avatare. You name it! Unsere Sprache verändert sich. Unsere Aufmerksamkeit auch. Was früher Jahrzehnte dauerte, geschieht mittlerweile in Monaten. Wir sind mittendrin. Und kommen kaum dazu, mitzukommen.
In dieser Ausgabe frage ich - getriggert durch drei sehr interessante und relevante Artikel - deshalb: Was macht Technologie gerade mit elementaren Kulturtechniken unseres Lebens mit denen wie wir Wissen aufnehmen, weitergeben und Kommunikation betreiben?
Wir erleben nämlich gerade einen stillen Umbau unserer Alltagskommunikation. Nicht durch ein einzelnes neues Gerät oder ein einzelnes spektakuläres Update, sondern durch ganz viele kleine Verschiebungen im Lesen, im Sprechen, im Hören. Ein Blick genügt: Die AirPods bleiben im Ohr, auch im Gespräch. Unsere Sprache klingt zunehmend wie LLM-Output. Nämlich immer glatter, sachlicher, irgendwie generischer. Und beim Lesen? Da springen wir zwischen KI-Zusammenfassungen, Blinkist-Kurzversionen, Reddit-Kommentaren und 2x-Podcast-Speed hin und her. Was wir aufnehmen, mag vordergründig betrachtet mehr werden. Aber was bleibt davon wirklich bei uns?
In diesen drei Texten werden wichtige Beobachtungen geteilt, Fragen aufgeworfen und auch ein paar Antworten gesucht:
📖 Was passiert mit dem Lesen? Ein Essay über die Fragmentierung unserer Lesekultur und das neue Verhältnis zwischen Mensch, Text und Maschine.
🗣️ Du klingst wie ChatGPT. Ein Stück über sprachliche Uniformierung und das Verschwinden von Echtheit.
👂 AirPods überall. Eine Reportage über Dauerbeschallung und das schleichende Ende ungeteilter Aufmerksamkeit.
Drei wichtige Textempfehlungen
📖 What’s Happening to Reading?
gelesen im New Yorker - von Joshua Rothman
Dies ist ein Essay mit literarisch-technologischem Analysefokus. Ausgangsfrage: Wie lesen wir eigentlich heute noch? Und was unterscheidet unser Lesen von dem der Maschinen? Früher sei Lesen einfacher gewesen. Eine lineare, stille, selbstbestimmte Tätigkeit. Ein Buch, ein Kopf, eine Pause vom Rest der Welt. Heute dagegen sei Lesen deutlich zerfasert: zwischen Bildschirm und Audio, Scroll und Swipen, Originaltext und Blinkist-Zusammenfassung. Immer mehr Menschen lesen nur noch in Fragmenten. Und unter immer im Wettbewerb mit anderen Reizen. Rothman nennt das treffend eine „neue Art des Lesens, bei der man sich ständig dagegen entscheiden muss, aufzuhören.“ Finde ich passend. Ich kenne das auch. Ihr ebenfalls?
Und dann ist da noch die KI. Sprachmodelle wie ChatGPT oder Claude seien längst keine bloßen Schreibmaschinen mehr, sondern „Super-Leser“. Sie haben das gesamte Netz gelesen, sie erinnern sich an alles, sie liefern Zusammenfassungen, Kontext, Erklärung. Und das sekundenschnell. Für viele wirke das hilfreich. Aber was heißt es für unsere eigene Lesekompetenz, unsere Beziehung zum Text, wenn aus dem Leseerlebnis ein Output-Briefing wird? Was bleibt dann noch vom Eintauchen, vom Denken beim Lesen, und vom literarischen Flow?
Rothman beschreibt, wie Lesen sich immer mehr in eine Art Remix-Zone verwandele. Texte werden komprimiert, verändert, an den eigenen Bedarf angepasst. Der Inhalt zählt, während gleichzeitig die Form verliert. KI wird auf der einen Seite zur Lesebrille, aber auch zur Lesefiltermaschine. Und je mehr das zur Norm werde, desto seltener würden jene Momente, in denen wir einen Text wirklich noch erlebten. In seiner ganzen Länge, Tiefe und sprachlichen Eigenart.
Das Fazit bleibt ambivalent: Der Mensch werde weiter lesen. Aber vielleicht seltener als vertiefte*r Leser*in, sondern als steuerndes, filterndes, zerpflückendes Individuum. Wer wirklich lese – ohne Assistenz, ohne Shortcuts – werde in Zukunft zur Ausnahme. Ausgang? Ungewiss. Mein Grund zur Besorgnis: groß. Ich sorge mich vor der Gefahr der immer umfassender werdenden Verflachung. Bei gleichzeitig steigender Gefahr für Manipulation (wenn wir gar nicht mehr die Originaltexte lesen, sondern Zusammenfassungen und Kürzungen von Systemen, bei denen wir uns auch fragen müssen, ob wir dem Output vertrauen können).
🗣️ You sound like ChatGPT
gelesen bei The Verge - von Sara Parker
Sara Parker beschreibt in diesem Text eindrucksvoll, wie sich unser Sprechen zunehmend dem Duktus von KI-Sprachmodellen angleiche. Und wie tief das mittlerweile schon gehe. Begriffe wie delve, realm, adept oder prowess tauchten seit dem Siegeszug von ChatGPT plötzlich in Podcasts, YouTube-Videos und Vorträgen auffällig häufig auf. Studien des Max-Planck-Instituts belegen: Das verdächtige Vokabular von KI sickert langsam aber stetig in unseren aktiven Sprachgebrauch. Nicht weil wir das wollen. Sondern weil viele Menschen es unbewusst übernehmen. Die KI schreibt mit. Und spricht mit. Und damit auch: formt mit.
Doch es geht nicht nur um einzelne Wörter. Parker beschreibt einen tieferen Wandel. Sprache werde glatter, strukturierter, und neutraler. Emotionen, Unsicherheiten, regionale Eigenheiten – all das, was Authentizität erzeugt – trete immer mehr in den Hintergrund. Was übrig bleibe, sei eine generische Ausdrucksweise, die funktional klinge, aber oft seltsam unnahbar wirke. Als würde man mit einem sehr höflichen Avatar sprechen.
Die Forscher*innen, die Parker zitiert, zeigen auch: Es geht nicht nur um Ästhetik der Sprache. Vertrauen sei ein ebenso wichtiger Aspekt. Wenn Menschen ahnten, dass ein Gegenüber KI-unterstützt spricht oder schreibt, sänke das Gefühl von Nähe, Kooperation, sogar Glaubwürdigkeit. Und gleichzeitig übernähmen wir genau diese sprachlichen Muster selbst, weil sie uns effizient, klar und „richtig“ erscheinen ließen.
Das große Risiko? Dass wir irgendwann gar nicht mehr merken, wann wir noch uns selbst ausdrücken vs. nur das reproduzieren, was sich richtig oder professionell anfühle. Oder schlimmer: was algorithmisch „gut performe“. Wenn Humor, Verletzlichkeit oder individuelle Stimme ausgebügelt werden, verlieren wir nicht nur sprachliche Vielfalt. Sondern auch einen Teil unserer Persönlichkeit.
Ich teile Parkers Plädoyer, welches sich nicht auf Technikskepsis fokussiert, sondern für mehr Bewusstheit. Ich denke, der Schutz unseres Menschseins beginnt nicht erst im politischen Diskurs oder in der Arbeitswelt. Sondern im kleinen, ganz persönlichen: nämlich in der Art, wie wir sprechen.
👂 How People Decided It’s OK to Wear AirPods Anywhere, Anytime
gelesen im Wall Street Journal - von Lauren Webber
Hier geht es um eine ganz alltägliche Beobachtung. Aber um eine, die dennoch mit erstaunlich viel Tiefgang verbunden ist. AirPods oder andere Ear Buds seien längst kein Gadget mehr. Sie seien Teil unserer Körper geworden. Sie ragten wie weiße Mini-Tusks aus unseren Ohren, auch dann, wenn wir mit echten Menschen reden. Oder: gerade dann.
Ob in der Arztpraxis, beim Kundenservice oder am Drive-through-Schalter. Überall tragen Menschen ihre Earbuds wie selbstverständlich weiter. Sind sie aus? Oder läuft da gerade ein Podcast? Musik? Ein Anruf? Das weiß das Gegenüber natürlich nicht. Und genau das mache Kommunikation diffus. Was früher als unhöflich galt, sei heute nicht mehr eindeutig zu interpretieren. Selbst Ärzt*innen sind verunsichert. Sind die Stöpsel eine Hilfe bei Reizüberflutung? Oder nur ein Zeichen von Desinteresse? Das Dilemma: Man weiß es nicht. Und dieses Nichtwissen über Aufmerksamkeit, Präsenz, Verbindung… es ziehe sich mittlerweile durch viele alltägliche Situationen.
Lauren Webber sagt: Das Tragen von Earbuds sei nicht einfach nur ein Mode- oder Komfortphänomen. Es sei ein stilles Signal für eine neue Kultur der geteilten Aufmerksamkeit. Eine Kultur, in der es normal geworden sei, gleichzeitig verfügbar und abwesend zu sein. Für andere, aber auch für sich selbst. Besonders spannend: Webber bringt Studien ein, die zeigen, dass echtes Zuhören – kognitiv betrachtet – eben nicht parallel zu Musik oder anderen Inputs möglich ist. Was keine Überraschung ist, wenn man sich mit der rätselhaften Vorstellung beschäftigt, die manche Menschen offensichtlich glauben: das sie geistiges Multitasking betreiben könnten. Aber das ist natürlich Quatsch und bleibt ein Mythos. Dennoch gestalten ganz schön viele Menschen ihren Alltag zunehmend so, als sei genau das der Normalfall. Ist das vielleicht auch ein Grund, warum in unserer Gesellschaft viele Menschen so ausgebrannt sind? Ich bin überzeugt davon.
Am Ende steht die Frage: Wie viel Unschärfe verträgt unsere Kommunikation? Wann kippt das Gleichzeitige ins Gleichgültige? Und: Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der man im Notfall in der Notaufnahme liegt… und trotzdem noch mit jemand anderem telefoniert? Ich trage selbst in eigentlich jeder freien Sekunde Ear Buds, um Podcasts, Hörbücher oder gespeicherte Artikel zu hören. Jetzt ist die Frage: was ist eine „freie Sekunde”? Für mich ist es die Zeit, in der ich repetitive, nicht-kognitive Dinge tue (z.B. die Morgenroutine aus Spülmaschine ausräumen, Kaffee brühen und Schulbrote für die Kinder zubereiten). Wenn ich bewusst mit anderen Menschen über längere Phasen kommunizieren möchte, nehme ich die Dinger aus dem Ohr. Ja, es passiert mal, dass ich im Büdchen um die Ecke beim Bezahlen die Ear Buds trage, den Content kurz beende, auf Transparenzmodus schalte und mit meinem Gegenüber kommuniziere. In diesen Momenten muss ich so rüberkommen, wie die Beschreibungen in diesem empfohlenen Text. Das will ich nicht… und nehme mir vor, hier noch reflektierte diese Alltagssituation zu bestreiten.
Wie machst du das?
Was bleibt?
Was sich in diesen drei Texten zeigt, ist kein technisches Problem. Es ist ein kulturelles. Wir verlieren nicht nur Konzentration oder Ausdruckskraft. Wir verlieren manchmal auch das Gefühl dafür, was unsere Kommunikation einmal ausgemacht hat: Tiefe, Spontaneität, Unverwechselbarkeit. Lesen wird zerhackt, Sprache geglättet, Zuhören optional. Und aus gesellschaftlicher Perspektive passiert das so subtil, dass wir es gar nicht recht bemerken. Oder erst dann, wenn es uns irritiert. Wenn ein Text klingt wie ein Bot, ein Gespräch sich anfühlt wie ein Skript, oder ein Gegenüber gar nicht mehr richtig da ist.
Wollen wir das wirklich? Ist es einfach der Lauf der Dinge, dass durch Technologie alles schneller, effizienter, und dabei wohl auch flacher wird? Oder ist jetzt der Moment gekommen, mal kurz anzuhalten, den Kopf rauszustecken und uns zu fragen:
Was wollen wir eigentlich mit all dieser Technologie erreichen? Mehr Komfort? Mehr Kontrolle? Oder vielleicht doch: mehr Verbindung, mehr Tiefe, mehr echtes Verstehen? Ich stelle mir diese Fragen nicht von außen. Ich bin mittendrin. Ich trage auch fast ständig meine Ear Buds. Manchmal frage ich mich erst im Nachhinein: War das jetzt schon unhöflich? Oder einfach nur praktisch? Bin ich noch präsent oder längst nur noch funktional?
Ich glaube nicht, dass es auf all das ein klares Richtig oder Falsch gibt. Aber vielleicht ist das genau der Punkt. Dass wir uns in all den kleinen Entscheidungen des Alltags immer wieder bewusst fragen: Was schleicht sich da gerade ein? Will ich das wirklich? Oder ist es einfach nur bequem und ok? Denn am Ende geht’s nicht darum, Technik zu verteufeln oder nostalgisch zu werden. Sondern darum, bewusster zu bleiben in einer Welt, die es einem zunehmend leicht macht, nur noch an der Oberfläche zu kratzen.
Ich bin aber auch hoffnungsvoll. Denn ich merke: Immer mehr Menschen spüren, dass da etwas ins Rutschen geraten ist. Die wollen verstehen, was genau. Die stellen Fragen. Die teilen Beobachtungen. Die schreiben mir. Und die zeigen mir: Dieses Bedürfnis nach Klarheit, Kontext und Tiefe ist nicht verschwunden. Es wächst in vielen. Vielleicht gerade wegen all der schnellen, glatten Tools, die uns umgeben.
Danke euch für das viele ehrliche, differenzierte Feedback, das mich nach jeder Ausgabe erreicht. Es motiviert mich enorm, weiter nachzufassen, zu sortieren, und zu deuten. Und dabei gemeinsam mit euch einen Blick für das zu behalten, was nicht sofort sichtbar ist. Aber das langfristig zählt. #dranbleiben lohnt sich.
Das war es für heute. Bitte leite oder empfiehl meinen Newsletter doch gerne weiter ➡️ ✉️ - das würde mir sehr helfen. Danke euch für die Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal!